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Wahn - Duma Key

Titel: Wahn - Duma Key Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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nannte, ein noch in Folie verpacktes Brathähnchen.
    »Wundert mich irgendwie, dass du überhaupt an Essen denken kannst«, sagte er mit einem Anflug von Tadel in der Stimme.
    »Essen interessiert mich nicht im Geringsten«, sagte ich, »aber vielleicht muss ich irgendwelches Zeug zeichnen. Ich bin sogar sicher , dass ich nachher irgendwelches Zeug zeichnen muss. Und das scheint Wagenladungen von Kalorien zu verbrauchen.«
    Jack kam mit den Zeichenblöcken und Stiften herunter. Ich nahm ihm alles ab und schickte ihn dann wieder nach oben, damit er die Knetgummis holte, die ich als Radiergummis benutzte. Wahrscheinlich würde irgendwas fehlen - ist es nicht immer so? -, aber mir fiel nicht ein, was es sein könnte. Ich sah auf die Wanduhr. Es war zehn vor zwölf.
    »Hast du Polaroidbilder von der Brücke gemacht?«, fragte ich Jack. »Bitte sag mir, dass du sie gemacht hast.«
    »Ja, aber ich dachte … die Geschichte mit den Röteln …«
    »Zeig mir die Fotos«, sagte ich.
    Jack griff in seine Gesäßtasche und zog einen dünnen Packen Polaroidbilder heraus. Er sortierte sie, dann gab er mir vier davon, die ich wie eine kurze Patience auf dem Küchentisch auslegte. Dann griff ich mir einen der Zeichenblöcke und begann eine Skizze nach dem Foto, das die Zahnräder und Ketten unter der sich öffnenden Zugbrücke - ein kümmerliches kleines Ding mit nur einer Fahrspur - am deutlichsten zeigte. Mein rechter Arm juckte weiter: ein tiefes, schläfriges Kribbeln.
    »Die Geschichte mit den Röteln war genial«, sagte ich. »Sie wird fast jedermann fernhalten. Aber fast ist nicht gut genug. Mary hätte sich auch nicht von meiner Tochter ferngehalten, wenn ihr jemand erzählt hätte, dass Illy Vogelgr... Scheiße!« Mir standen Tränen in den Augen, und ein Strich, der gerade hätte sein sollen, war krumm geworden.
    »Ganz ruhig, Edgar«, sagte Wireman.
    Ich sah auf die Wanduhr: 11.58 Uhr. Die Zugbrücke würde um 12 Uhr hochgehen; das tat sie immer. Ich blinzelte die Tränen weg und beugte mich wieder über meine Zeichnung. Maschinenteile flossen aus der Spitze des Venus Black, und sogar jetzt, wo Ilse tot war, erfasste die Faszination, etwas Reales aus dem Nichts entstehen zu sehen - wie Formen, die aus einer Nebelbank auftauchen -, mich fast unmerklich wieder. Und warum auch nicht? Welcher Zeitpunkt wäre besser gewesen? Die Arbeit bot mir eine Zuflucht.
    »Wenn sie jemanden hat, den sie auf uns ansetzen kann, und die Zugbrücke ist lahmgelegt, schickt sie ihn einfach zur Fußgängerbrücke, die von Don Pedro Island herüberführt«, sagte Wireman.
    Ohne von meiner Zeichnung aufzusehen, sagte ich: »Vielleicht auch nicht. Nicht allzu viele Leute kennen den Sunshine Walkway, und ich bin sicher, dass Perse ihn nicht kennt.«
    »Warum nicht?«
    »Weil er in den Fünfzigerjahren gebaut wurde, das weiß ich von dir, und sie damals geschlafen hat.«
    Er dachte einen Augenblick darüber nach, dann sagte er: »Du glaubst, dass sie besiegt werden kann, nicht wahr?«
    »Ja, das tue ich. Vielleicht nicht getötet, aber wieder in Schlaf versetzt.«
    »Weißt du, wie?«
    Man muss das Leck im Tisch finden und abdichten, hätte ich beinahe gesagt … aber das ergab keinen Sinn.
    »Noch nicht. Im anderen Haus liegen weitere Zeichnungen von Libbit. In dem am Südende der Insel. Sie werden uns sagen, wo Perse ist, und mir, was ich zu tun habe.«
    »Woher weißt du, dass es noch mehr gibt?«
    Weil es welche geben muss, hätte ich gesagt, aber in diesem Augenblick ertönte das Mittagssignal. Eine Viertelmeile die Straße hinunter ging die Zugbrücke zwischen Duma Key und Casey Key - die einzige nördliche Verbindung zwischen uns und der Küste - langsam hoch. Ich zählte bis zwanzig, wobei ich zwischen den Zahlen jeweils das Wort Mississippi einfügte, wie ich es als Kind getan hatte. Dann radierte ich das größte Zahnrad auf meiner Zeichnung aus. Während ich das tat, hatte ich das Gefühl - in dem fehlenden Arm, ja, aber auch genau zwischen und knapp über meinen Augen -, wundervolle Präzisionsarbeit zu verrichten.
    »Okay«, sagte ich.
    »Können wir jetzt fahren?«, fragte Wireman.
    »Nicht gleich«, sagte ich.
    Er sah auf die Wanduhr, dann wieder mich an. »Ich dachte, du hättest es eilig, amigo . Und wenn man bedenkt, wen wir letzte Nacht hier angetroffen haben, weiß ich, dass ich es eilig habe. Was gibt’s also noch?«
    »Ich muss euch beide zeichnen«, sagte ich.
     
     
     
     
     
     
    IV »Ich würde mich liebend gern von dir

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