Wahn - Duma Key
Dies war mein Horizont, den ich vom Little Pink aus sah. Das wusste ich, genau wie ich wusste, dass der Künstler dem stetigen Mahlen der Muscheln unter sich gelauscht hatte, als er ein leeres Blatt Papier in das verwandelt hatte, was sein Auge sah und sein Verstand umsetzte. Am Horizont stand ein Schiff, vermutlich ein Tanker. Es hätte genau der sein können, den ich an meinem ersten Abend im Haus 13 Duma Key Road gezeichnet hatte. Der Stil war ganz anders als meiner, aber das Sujet war verdammt nahe daran, identisch zu sein.
Am unteren Rand stand fast nachlässig hingekritzelt: Salv Dalí.
IV Miss Eastlake - Elizabeth - rauchte ihre Zigarette, während Oprah Kirstie Alley über das immer faszinierende Thema Magersucht ausfragte. Wireman servierte Eiersalat-Sandwichs, die köstlich waren. Mein Blick ging immer wieder zu der gerahmten Skizze von Dalí hinüber, und ich dachte dabei natürlich: Hallo, Dalí. Als Dr. Phil an die Reihe kam und anfing, ein paar fette Ladys im Publikum zu beschimpfen, die sich dafür offenbar freiwillig gemeldet hatten, erklärte ich Wireman und Elizabeth, ich müsse jetzt wirklich heim.
Elizabeth benutzte die Fernbedienung, um Dr. Phil zum Schweigen zu bringen, dann hielt sie mir das Buch hin, auf dem die Fernbedienung gelegen hatte. Ihr Blick war demütig und hoffnungsvoll zugleich. »Wireman sagt, dass Sie an manchen Nachmittagen kommen und mir vorlesen werden, Edmund, stimmt das?«
Manchmal sind wir gezwungen, Entscheidungen in Bruchteilen von Sekunden zu treffen, und nun traf ich eine solche. Ich beschloss, nicht zu Wireman hinüberzusehen, der links neben Elizabeth saß. Der Scharfsinn, den sie an ihrem Spieltisch hatte erkennen lassen, schwand allmählich, das merkte sogar ich, dennoch ging ich davon aus, dass er größtenteils erhalten war. Ein Blick zu Wireman hinüber hätte genügt, um ihr zu zeigen, dass ich nichts davon wusste, und sie in Verlegenheit gebracht. Diese Peinlichkeit wollte ich ihr ersparen - teils weil ich sie mochte, teils weil ich den Verdacht hatte, dass das Leben in den kommenden ein bis zwei Jahren noch viele Peinlichkeiten für sie bereithielt. Bald würde es mehr geben als nur vergessene Namen.
»Wir haben darüber gesprochen«, sagte ich.
»Vielleicht lesen Sie mir heute Nachmittag ein Gedicht vor«, sagte sie. »Sie dürfen aussuchen. Gedichte fehlen mir so sehr. Ich könnte ohne Oprah auskommen, aber ein Leben ohne Bücher ist ein durstiges Leben, und eines ohne Gedichte ist...« Sie lachte. Das war ein verwirrter Klang, der mir im Herzen wehtat. »Es ist wie ein Leben ohne Bilder, finden Sie nicht auch? Oder denken Sie anders?«
In dem Raum war es totenstill. Irgendwo tickte eine Uhr, aber das war alles. Ich dachte, Wireman würde etwas sagen, aber das tat er nicht; sie hatte ihn vorübergehend sprachlos gemacht - keine schlechte Leistung, wenn sie diesen hijo de madre betraf.
»Sie können eins aussuchen«, sagte sie wieder. »Oder wenn Sie schon zu lange geblieben sind, Edward...«
»Nein«, sagte ich. »Nein, das ist in Ordnung, mir geht’s gut.«
Das Buch trug den schlichten Titel Gute Gedichte . Der Herausgeber war Garrison Keillor, ein Mann, der in dem Teil der Welt, aus dem ich stammte, vermutlich als Gouverneur kandidieren und gewählt werden konnte. Ich schlug den Gedichtband aufs Geratewohl auf und fand ein Gedicht von einem gewissen Frank O’Hara. Es war kurz. Das machte es in meinen Augen zu einem guten Gedicht, und ich legte los.
»Habt ihr vergessen, dass wir wie sie waren als wir noch zur ersten Garde zählten und der Tag mit Macht heranbrach, mit einem Apfel im Maul
Es hat keinen Sinn, sich wegen der Zeit zu sorgen aber wir hatten ein paar Trümpfe im Ärmel und haben ein paar enge Kurven gemeistert
Die ganze Weide schien unser Mahl zu sein Wir brauchten keine Tachometer Wir mixten Cocktails aus Eis und Wasser...«
An dieser Stelle passierte irgendetwas mit mir. Meine Stimme bebte, und ich sah die Wörter doppelt, als hätte das gesprochene Wort Wasser es mir in die Augen getrieben. Ich blickte auf und sagte: »Entschuldigung.« Meine Stimme war heiser.Wireman wirkte besorgt, aber aus Elizabeth Eastlakes Lächeln sprach völliges Verständnis.
»Schon in Ordnung, Edgar«, sagte sie. »Auch auf mich wirken Gedichte manchmal so. Ehrliche Gefühle sind nichts, wofür man sich schämen müsste. Männer heucheln keinen Anfall.«
»Auch simulieren sie keinen Krampf«, ergänzte ich. Meine Stimme schien
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