Wahn
schriftlichen Befund. Kein Zweifel, hier lag eine Demenz vom Alzheimertyp vor. Wie konnte jemand mit solch gravierenden Mängeln im Erkennen komplexer Situationen und planvollen Handeln nur so lange unauffällig in einer wichtigen Behörde an exponierter Stelle überleben?
Am nächsten Tag hatten wir den Termin für das zusammenfassende Abschlussgespräch. Auf Herrn Berners Wunsch hin kam auch seine Ehefrau dazu. Es handelte sich um eine blondierte, etwas korpulente Mittvierzigerin, die ihre Unsicherheit mit einer lauten Stimme zu überspielen versuchte. Als ich alle Befunde erläutert hatte, stellte der matt dasitzende Patient die Frage: »Sagen Sie doch klipp und klar, habe ich Alzheimer? Was ist Ihre Einschätzung?«
»Die vorliegenden Befunde sprechen tatsächlich für diese Diagnose. Wir müssen davon ausgehen, dass bei Ihnen das Anfangsstadium einer Demenz vorliegt. Eine andere Ursache für Ihre Beschwerden haben wir nicht gefunden. Wir werden den Verlauf abwarten müssen, inzwischen werden Sie mit einem Medikament behandelt, das den Verlauf abmildert.«
»Alzheimer?«, kreischte die Ehefrau, »das ist doch das Letzte! Ich soll dich pflegen, bis du nicht mehr weißt, wer du bist und was du tust? Weißt du noch, wie es mit deinem Vater war? Eine Zumutung für seine Umgebung! Nicht mit mir!«
»Wir wollen erst einmal abwarten«, murmelte der Patient, und ich versuchte, so sachlich wie möglich die Wirkung und Nebenwirkungen des Medikaments zu erläutern, das Herr Berner ab jetzt regelmäßig einnehmen sollte. Es handelte sich um ein sogenanntes »Antidementivum«. Diese Medikamente steigern im Gehirn die Wirkung und Konzentration des wichtigen Überträgerstoffes Azetylcholin, der für die Kommunikation zwischen den Nervenzellen benötigt wird. Da bei der Alzheimer-Demenz ständig Nervenzellen untergehen, nimmt auch die Produktion dieses wichtigen Überträgerstoffes ab. Durch die Behandlung wird der Abbau des Azetylcholins im Gehirn verzögert, so dass mehr davon für das Denken und das Gedächtnis zur Verfügung steht. Damit lässt sich zwar die Alzheimer-Erkrankung nicht heilen, der Verlauf jedoch abmildern und die Anzahl der Jahre erhöhen, in denen die Patienten noch selbstständig sind. Mit medizinischen Mitteln lässt sich der zwangsläufige Gang der Erkrankung schlussendlich nicht verhindern: Vergesslichkeit, Desorientiertheit, Erlöschen jeder Erinnerung und der Persönlichkeit, Pflegebedürftigkeit, Tod.
Ich schrieb ein Rezept aus und vereinbarte mit dem Patienten einen neuen Termin in 14 Tagen, um zu erfahren, ob er das Medikament verträgt.
Als beim Hinausgehen seine Frau als Erste aus dem Zimmer gerauscht war, schaute er mir mit einem spöttischen Lächeln in die Augen, zog eine Augenbraue hoch und nickte in Richtung seiner Frau. Als beide weg waren, saß ich noch eine ganze Zeit hinter meinem Schreibtisch: Das war kein Paar, welches alle Schicksalsschläge gemeinsam meisterte. Durch dick und dünn, bis dass der Tod euch scheide. Wenn eine schwere chronische Krankheit am Horizont aufscheint, wie es bei Berner der Fall war, sind viel Liebe und Respekt erforderlich, um für den Partner einzustehen. Davon konnte man bei diesem Paar eindeutig nicht ausgehen. Da war jedoch noch etwas, das mir durch den Kopf ging: Der Gesichtsausdruck Berners, der Spott und die ironische Attitüde beim Abschied, das passte eigentlich nicht zu einem Demenzpatienten, er wirkte wenig betroffen und auch die Ausfälle seiner Ehefrau schienen ihm lediglich ein Lächeln zu entlocken. Etwas stimmte da nicht. Ich holte noch einmal die Ergebnisse der psychologischen Tests hervor. Kein Zweifel, eine deutliche Demenz. Diese Tests sind so angelegt, dass man praktisch nicht mogeln kann; es gibt so viele Fallen und Fallstricke, aus denen man herauslesen könnte, ob jemand sich nur dement stellt oder es wirklich ist.
Als vierzehn Tage später der Name Berner auf meinem Kalender stand, war ich gespannt zu erfahren, wie es dem Patienten ging. Vor allem in Bezug auf die Verarbeitung der Diagnose und seine persönliche Situation, aber natürlich auch, wie er das neue Medikament vertrug und ob man an der Dosierung noch etwas ändern musste. Um elf Uhr schaute meine Sekretärin durch die Tür und sagte, dass Herr Berner nicht erschienen sei, sie habe seine Handynummer gewählt, es habe sich seine Frau gemeldet, ihm ginge es nicht gut, auch sei ihr der Weg von Schwerin nach Greifswald zu weit, sie würden sich wohnortnah einen Arzt
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