Wahn
suchen. »Also gut«, sagte ich, »schließen wir die Akte ab.« Aus reinem Interesse, noch immer den ironischen Blick des Patienten beim Abschied vor Augen, rief ich eines Tages seinen Hausarzt an, einen soliden, unter seinem Übergewicht leidenden Praktiker, dem das Wohl seiner Patienten sehr am Herzen lag.
Ja, der Herr Berner sei jetzt ganz in seiner Behandlung, das sei nicht gegen mich gerichtet, aber er wollte nicht so viel Aufhebens um seine Person machen. Es ginge ihm prächtig.
Fast genau ein Jahr war seit dem Telefonat mit Berners Hausarzt vergangen. Ein besonders heißer Sommer lastete mit subtropischen Temperaturen über dem Städtchen. Ich hatte mich eines Abends mit meiner Frau verabredet, den Tag beim Italiener auf dem Marktplatz ausklingen zu lassen. Um uns herum pulsierte das sommerliche Leben, Gruppen von Studenten und Händchen haltende Pärchen flanierten an uns vorüber. Plötzlich hörte ich ein »Guten Abend, Herr Professor.« Das war an sich nichts Ungewöhnliches, in einer kleinen Universitätsstadt bleibt es nicht aus, dass man auf Schritt und Tritt seinen Studenten begegnet. Ich schaute von meinem Tomaten-Mozzarella-Salat auf, und vor mir stand Axel Berner, entspannt lächelnd, braungebrannt, in jugendlichen Jeans und T-Shirt, an seiner Seite eine mindestens zwanzig Jahre jüngere brünette Schönheit, die mich fröhlich aus ihren braunen Augen anblitzte.
»Herr Berner, das freut mich ja, dass ich Sie treffe«, entfuhr es mir, ich stand auf, um ihm die Hand zu reichen. »Wie geht es Ihnen?«
»Wunderbar geht es mir. Mann, war ich fertig, als ich bei Ihnen war; die schreckliche Ehe – meine Frau haben Sie ja kennengelernt – und der Stress in der Behörde. Auf Grund Ihres Berichtes bin ich dann pensioniert worden. Allein dadurch ging es mir schon besser. Ich habe mich dann auch von meiner Frau getrennt. Und wissen Sie was? Ich war von den Tests und den Gesprächen mit Ihrer Psychologin so sehr fasziniert, dass ich begann Psychologie zu studieren, als alles vorbei war, als Rentner, sozusagen zu meinem Vergnügen.«
Ich setzte mich mit geöffnetem Mund wieder, und Herr Berner verabschiedete sich fröhlich winkend.
Meine Frau sah mich irritiert an: »Wer war das? Warum bist du so perplex?«
»Fehldiagnose«, murmelte ich, und nahm einen Schluck vom Pinot Grigio. »Das war ein ehemaliger Patient, bei dem wir letztes Jahr die Diagnose einer Alzheimer-Demenz gestellt haben.«
»Einen dementen Eindruck hat der Herr aber nicht auf mich gemacht«, entgegnete meine Frau verwundert. »Im Gegenteil, er wirkte ganz schön aufgeweckt.« »Normalerweise ärgert sich jeder Arzt, wenn er eine Fehldiagnose stellt, aber in diesem Fall bin ich wirklich froh darüber. Dieser Patient hat keine Alzheimer-Demenz – wir sind einer Pseudodemenz bei schwerer Depression auf den Leim gegangen.«
DER ÜBERFALL
Als sich mein Handy meldete, saß ich gerade auf der Terrasse eines Ferienhauses in Südfrankreich. Es war Iris, die Ehefrau von Hubertus Tillmann, eines guten Freundes von mir. Hubertus war Lehrer für Mathematik und Kunst an einem Gymnasium. Er war zudem ein ausgezeichneter Maler und veranstaltete alle zwei Jahre in unserem Kunstverein eine Ausstellung. Die meisten seiner Bilder fanden ihren Käufer, allerdings betonte er immer wieder, wie froh er darüber war, ein festes Lehrereinkommen zu beziehen und finanziell nicht auf seine Malerei angewiesen zu sein. Seine Spezialitäten waren Frauenporträts und Stillleben. Einige Bilder habe ich Hubertus abgekauft, um damit die Wände unserer Klinik zu schmücken. In der Regel war er es, der spontan zu jeder passenden und unpassenden Zeit anrief, um von seinen neuesten Projekten und Ideen zu berichten. Deshalb war ich etwas verwundert, jetzt die Stimme seiner Frau zu hören.
»Hier ist Iris, mit Hubertus stimmt etwas nicht. Seit einigen Tagen ist er ganz verändert, er irrt in unserem Haus herum, rennt gegen die Türpfosten und ist völlig durcheinander.«
Ich empfahl ihr, mit Hubertus sofort unsere Klinik aufzusuchen, damit er neurologisch untersucht werden konnte, und kündigte ihn telefonisch bei unserem diensthabenden Oberarzt an. Einige Stunden später rief dieser mich zurück. Zwischenzeitlich war eine Magnetresonanztomographie von Hubertus’ Kopf gemacht worden, dabei hatte sich ein auffälliger Befund ergeben. Es zeigte sich ein krankhafter Prozess in der rechten Gehirnhälfte, mit großer Wahrscheinlichkeit handelte es sich hierbei um einen
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