Wahn
Beispiel können Menschen mit schlecht eingestelltem Bluthochdruck ganz ähnliche Symptome wie ein an Alzheimer-Demenz erkrankter Patient bekommen.
»Ich werde jetzt mit Ihnen einen kleinen Test zur Objektivierung Ihrer Beschwerden machen«, sagte ich und begann ihm einige Aufgaben des Mini Mental Tests zu stellen. Dabei handelt es sich um einen einfachen Test, bei dem Orientierung, Gedächtnis, abstraktes Denken, Lesen und Schreibvermögen abgefragt werden. Wenn man alles richtig beantwortet hat, bekommt man 30 Punkte, ab 26 Punkten ist man leicht, ab 16 Punkten mittelgradig und unter 8 Punkten schwer dement. Ich nannte drei Begriffe: »Zitrone, Schlüssel, Ball«, die Herr Berner laut und langsam wiederholen sollte. Dann musste er 100 minus sieben, dann wieder minus sieben und wieder minus sieben rechnen. Bei dieser Aufgabe versagte Herr Berner völlig. Ob er sich Notizen machen dürfe, fragte er, nur um dann auf dem Blatt Papier, das ich ihm vorlegte, unmotivierte Kreise zu kritzeln. Keine der Rechenaufgaben beantwortete er richtig. Als ich ihn aufforderte, die drei Begriffe zu wiederholen, die ich ihm vor einer Minute vorgesagt hatte, stierte er mich verblüfft an. Er wusste keines der Wörter. Ich errechnete 12 Punkte, was für eine mittelgradige Demenz sprach.
Ich schlug Herrn Berner vor, ihn für ein paar Tage in unserer Klinik stationär aufzunehmen. Um überhaupt festzustellen, was vorliege, seien einige genauere Untersuchungen notwendig. Hierzu zählten eine MRT-Aufnahme des Kopfes und eine detaillierte neuropsychologische Untersuchung, um das exakte Ausmaß der vorhandenen Einschränkungen festzustellen. Schließlich war eine Untersuchung des Nervenwassers notwendig. Dabei wird mit einer dünnen Nadel zwischen den Wirbeln im Lendenbereich eine kleine Probe der Flüssigkeit entnommen, die das Gehirn und das Rückenmark umgibt. Durch spezielle Untersuchungen kann eine Entzündung des Nervensystems, eine weitere potentielle Ursache einer Demenz, festgestellt werden. Herr Berner willigte ein und bezog schon einige Tage später ein Einzelzimmer in unserer Klinik. Im Gegensatz zu vielen anderen Patienten, die den Aufenthalt in einer Klinik nutzten, um zu lesen und ausgiebig fernzusehen, die ganze Berge von Büchern und Zeitschriften auf ihren Nachttischen horteten, saß Herr Berner stocksteif da und fixierte teilnahmslos einen Punkt auf der gegenüberliegenden Wand. Kein Handy, keine Lektüre, keine Abwechslung. Noch am Aufnahmetag wurde das MRT des Kopfes durchgeführt. In den Schichtaufnahmen des Gehirns konnten die Hirnfurchen und die inneren Hirnkammern sichtbar gemacht werden. Bei der Alzheimer-Erkrankung tritt durch Untergang der Nervensubstanz eine Verbreiterung der Hirnfurchen auf, vor allem in den Schläfenlappen, in denen das Kurzzeitgedächtnis lokalisiert ist. Man muss sich die Funktion dieser Hirnregion wie die einer Computer-Festplatte vorstellen; hier werden alle aktuellen Informationen abgespeichert, bevor sie weiterverarbeitet werden und im endgültigen Speicher, dem Langzeitgedächtnis, landen. In dem Schläfenhirn kommt es bei der Alzheimer-Demenz schon sehr früh zu einem massiven Absterben von Hirnzellen, was erklärt, dass zu Beginn der Erkrankung vorwiegend das Kurzzeitgedächtnis leidet.
Bei Herrn Berner fand sich tatsächlich eine Verbreiterung der Hirnfurchen, mit Schwerpunkt im Schläfenhirn. »Vorsicht«, sagte unser Neuroradiologe allerdings, »hier gibt es eine große Variationsbreite, das kann noch normal sein.«
Die Untersuchung des Nervenwassers ergab keinen krankhaften Befund, aber unsere Neuropsychologin Frau Dr. Krause wurde fündig. Sie führte eine ganze Reihe von Tests durch, um Gedächtnis, abstraktes Denken, Orientierungsvermögen und Kombinationsgabe zu messen. »Ich stelle eindeutig die Diagnose einer Demenz«, sagte sie. »Es sind alle Kriterien vorhanden. Wenn wir die einzelnen Felder der Leistungseinbuße berücksichtigen, handelt es sich um eine temporale Störung, also um eine Demenz vom Typ Alzheimer.«
»Sind Sie sich ganz sicher?«, fragte ich. »Der Patient wirkt so depressiv und verschlossen, es kann auch sein, dass er Ihre Fragen nicht richtig beantwortet hat, weil er durch die depressive Verstimmung unter einer inneren Sperre leidet. Auf jeden Fall war er in seinem Job massiv überfordert. Kann es nicht sein, dass er sich innerlich nur zurückzieht?«
»Das ist natürlich möglich, ich halte es jedoch für unwahrscheinlich.«
Ich las den
Weitere Kostenlose Bücher