Wahn
Usedom an. Bereits eine Woche später rief er mich aus der Kur heraus an: »Ich halte das hier nicht mehr aus, hier wimmelt es von alten Weibern, niemand, mit dem ich mich unterhalten kann. Du musst mich hier rausholen.« Ich machte ihm klar, dass er jederzeit die Rehabilitationsklinik verlassen könne, dass er es sich aber gut überlegen solle, da er unmöglich schon wieder ganz auf dem Damm sein konnte. »Nein, nein«, lachte Hubertus, »ich muss nach Hause, ich will noch einen Haufen toller Bilder malen. Was ganz Neues, wie Turner, etwas ganz Tolles.«
Wieder eine Woche später saß Hubertus mir in meinem Konsultationszimmer gegenüber. Zwischenzeitlich war das Ergebnis der Feinuntersuchung des Gewebes eingetroffen, welches während der Operation gewonnen worden war: »Glioblastoma multiforme«, ein besonders bösartiger Krebs, der von bestimmten Zellen des Gehirnes, den Gliazellen, ausgeht. Die Gliazellen sind für das Stützen und die Ernährung der Nervenzellen zuständig; sie können sich durch einen Programmierfehler so verändern, dass sie krebsartig entarten, sich ausbreiten und das gesunde Gehirngewebe zerstören. Leider sprechen diese Tumoren auf die üblichen Behandlungen wie Bestrahlung und Zytostatika nur schlecht an.
»Ich will, dass du zu mir ehrlich bist. Wie lange habe ich noch zu leben? Ich habe gegoogelt, Glioblastom, da hat man nur ein halbes, maximal ein ganzes Jahr zu leben, stimmt das? Habe ich nur noch ein halbes Jahr zu leben?«
Es folgte ein längeres Gespräch über die Prognose der Krankheit, die notwendige optimale Therapie und die nächsten Schritte, die unternommen werden mussten. »Tatsache ist, dass ich noch nicht abtreten kann. Du weißt ja, wie hoch ich nach der Renovierung unseres Hauses verschuldet bin, ich möchte auf gar keinen Fall meiner Familie eine große Menge Schulden hinterlassen.«
Hubertus hatte vor ein paar Jahren preiswert ein Altstadthaus gekauft und zu renovieren begonnen. Während der Arbeiten war festgestellt worden, dass das gesamte Fachwerk und Dachgebälk von einem besonders hartnäckigen Schwamm befallen war. Da das Haus unter Denkmalschutz stand, konnte es nicht einfach abgerissen und ein neues Haus an seine Stelle gebaut werden. Es musste sehr kostspielig Balken für Balken ersetzt werden. »Ich lebe in einem Einmillionenhaus, das nur eine halbe Million wert ist«, hatte er einmal zu mir gesagt. So einfühlsam wie möglich empfahl ich Hubertus nun, seine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen.
Bei Hubertus wurde eine Bestrahlung durchgeführt und die Behandlung mit dem Zytostatikum Temodal begonnen. Alles lief gut, bei diversen Nachuntersuchungen ergab sich keine Verschlechterung des Befundes, der Tumor schien Ruhe zu geben, in den MRT-Aufnahmen war kein neues Tumorwachstum nachweisbar und auch der neurologische Befund war stabil. Ganz leise, damit seine Frau, die im Nebenraum wartete, nicht mithören könnte, raunte mir Hubertus eines Tages zu: »Ich muss etwas machen wegen der Schulden. Du bist Arzt und an die Schweigepflicht gebunden. Sag mir endlich, wie lange habe ich noch zu leben?«
»Hubertus, langsam nervst du, ich bin Arzt und nicht der liebe Gott. Was man im Internet findet, das mit dem halben Jahr, ist Unsinn, das sieht man am besten daran, dass du noch putzmunter vor mir sitzt. Es ist nämlich genau sieben Monate her, dass der Tumor diagnostiziert worden ist. Ich kann nur sagen, dass du wahrscheinlich irgendwann an dem Tumor sterben wirst, aber wann, das kann dir keiner auf Stunde und Tag genau sagen. Bei einer vernünftigen Lebensführung und wenn die Behandlung optimal läuft, hast du noch eine gute Zeit vor dir, die du nutzen solltest.«
»Ich habe beschlossen eine Bank zu überfallen oder etwas Ähnliches. Ich muss meine Dinge ordnen, hast du gesagt, und ich bin schon dabei. Vor allem muss ich schnell an eine große Summe rankommen, um auf einen Schlag die Schulden abzulösen, damit Iris sorgenfrei leben und im Haus bleiben kann.«
»So ein Unsinn!« Ich war wirklich erbost. Wie konnte er nur auf solche Ideen kommen? »Verbringe eine tolle Zeit mit Iris und den Kindern. Sei bei der Behandlung gewissenhaft, das sind deine Aufgaben und nicht irgendwelche phantastischen Räuberpistolen.«
Über dieses Thema wurde zwischen uns nie wieder gesprochen. Bei einer der halbjährigen Kontrollen war erstaunlicherweise der Resttumor, der Tumoranteil, den der Neurochirurg nicht entfernen konnte, etwas kleiner geworden. »Das ist nur der guten
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