Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wahn

Wahn

Titel: Wahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christof Kessler
Vom Netzwerk:
den Frühstückstisch zu ihm herüber. Wie immer war ihr Gesicht morgendlich verquollen, die kleinen Augen blickten ihn hämisch durch schießschartenartige Schlitze an. »Ihr müsst da ganz viel Mist gemacht haben, keine Anfrage aus Rostock ist vernünftig beantwortet worden. Wundert mich gar nicht. Wie du dort überhaupt bestehen kannst, ist mir völlig schleierhaft. Dich Trottel kann man doch nicht einmal zum Einkaufen schicken.«
    »Du weißt, dass ich nicht Trottel genannt werden möchte!« Dann erhob er die Stimme. »Ich bin kein Trottel!«, schrie er, stand überhastet auf und stürzte in die Garderobe, um sein Jackett anzuziehen und, ohne sein Ei ausgelöffelt zu haben, erregt das Haus zu verlassen.
    Im Büro erwartete ihn verzweifelt Frau Engel. »Sie sollen sofort zum Chef kommen.«
    Mit Chef meinte sie den Staatssekretär Dr. Hormuth. Dieser saß wie immer geduckt wie ein Panther vor dem Absprung hinter seinem Schreibtisch. Einige Herren aus der Abteilung hatten ebenfalls am Konferenztisch Platz genommen. Es herrschte Schweigen, alle schauten sorgenvoll Berner an.
    Der Staatssekretär sagte mit schneidender Stimme: »Meine Herren, da ist gestern einiges schief gelaufen. Wir haben uns doch am Vormittag getroffen und den Einsatz besprochen. Aber nichts ist passiert, die Kommunikation mit dem Rostocker Einsatzort war verheerend, wir haben uns blamiert bis auf die Knochen.«
    Im Rahmen dieser Beratung wurde der verbeamtete Abteilungsleiter im Ministerium Axel Berner als der Hauptschuldige am Desaster des Vortages identifiziert. »Ich verstehe nicht, wie es möglich gewesen ist, dass gestern eine Abteilung unseres Ministeriums so eklatant versagen konnte«, sagte der Staatssekretär zunächst ruhig und sachlich, um dann doch die Beherrschung zu verlieren und zu brüllen: »Sie sind ein Versager, Herr Berner! Eine Null! Gehen Sie mir aus den Augen, ich werde dafür sorgen, dass Sie in meinem Verantwortungsbereich keinen Schaden mehr anrichten können!« Berner wollte noch etwas sagen, sich verteidigen, erklären, aber ihm fiel nichts ein, was er als Entschuldigung hätte vorbringen können. Geknickt verließ er den Raum und war froh, dass das Brüllen seines sonst so um Beherrschung bemühten Vorgesetzten nur noch gedämpft zu hören war. Er wurde mit sofortiger Wirkung von seinem Dienst suspendiert. Außerdem erfolgte die Auflage, sich amtsärztlich untersuchen zu lassen; dies war wohl Folge mehrerer Äußerungen seiner Sekretärin Engel, die von Vergesslichkeit, Fahrigkeit und einem irgendwie seltsamen Verhalten berichtet hatte.
    Einige Wochen später saß Herr Berner mir gegenüber. Er wirkte müde und erschöpft, seine Schultern waren gebeugt, die Stimme tonlos und monoton. Sein kurz geschnittenes Haar war ergraut, in sein Gesicht hatten sich tiefe Sorgenfalten gegraben. Kaum hatte er Platz genommen, brach es aus ihm heraus: Er sei seit mindestens einem Jahr so stark vergesslich, dass er überhaupt nichts mehr auf die Reihe bekäme. Er merke es im Alltag; wenn er in ein Zimmer ginge, um etwas zu holen, wisse er, dort angekommen, nicht mehr, wozu er eigentlich in das Zimmer gegangen war. Ganz katastrophal seien Einkäufe; trotz detaillierter Einkaufszettel käme er nicht zurecht und vergesse die Hälfte. Einmal sei er von einer auswärtigen Besprechung gekommen und habe die Stadt aus einer anderen, ihm ungewohnten Richtung angefahren. Er sei so verwirrt und durcheinander gewesen, das er seinen Navigator in Gang setzen musste, um sein eigenes Haus zu finden. Durch die Vergesslichkeit habe er zunehmend auch Schwierigkeiten in der Behörde bekommen, da sei einiges schief gelaufen und er habe erhebliche Probleme mit seinen Vorgesetzten. Zudem käme ihm das Leben insgesamt sinnlos vor, er habe an nichts mehr Freude, schlafe nachts kaum noch, wälze sich nur im Bett herum und fühle sich morgens wie zerschlagen.
    Axel Berner sah mich erwartungsvoll an: »Nun, was sagen Sie? Mein Vater ist mit 75 Jahren an der Alzheimer-Demenz gestorben. Ist so etwas vererbbar? Habe ich auch eine Demenz?«
    Ich erklärte ihm, dass es nur sehr seltene Fälle von familiärer, also vererbbarer, Alzheimer-Erkrankung gebe. Die meisten Patienten mit einer Demenz haben eine sporadische Form, die spontan auftritt und nicht familiär gehäuft vorkommt. Außerdem sei die Alzheimer-Erkrankung zwar die häufigste Ursache eines intellektuellen Abbaus, es gebe aber auch eine ganze Menge anderer Ursachen, die ausgeschlossen werden müssten. Zum

Weitere Kostenlose Bücher