Wahn
Hirntumor; eine durch einen Schlaganfall verursachte Durchblutungsstörung sei weniger wahrscheinlich. Der Patient hatte nicht in der Klinik bleiben wollen und war mit seiner Frau nach Hause gegangen.
Als ich in der Klinik meinen Dienst wieder antrat, stand bereits am ersten Tag der Name Tillmann in meinem Kalender. Hubertus kam gemeinsam mit Iris. Beide wirkten stark verängstigt und beunruhigt. Nachdem ich noch einmal die Krankengeschichte notiert hatte, besprach ich mit ihnen ausführlich die Befunde des MRT. Man sah in der rechten Hirnhälfte, im Scheitellappen, eine rundliche, unregelmäßig begrenzte Struktur, die da nicht hingehörte, etwas kleiner als eine Mandarine. Während der Untersuchung war Hubertus in die Armvene ein Kontrastmittel eingespritzt worden; dieses Kontrastmittel reicherte sich in den Randzonen der rundlichen Struktur an. Dies war ein Hinweis darauf, dass sich die Zellen des Tumors rasch vermehrten und dass es sich um keinen gutartigen, sondern um einen aggressiven, bösartigen Hirntumor handelte.
Dann untersuchte ich Hubertus meinerseits. Als Folge seiner regelmäßigen Besuche im Fitnessstudio wirkte er trotz seiner 62 Jahre athletisch. Als ich die Gesichtsfelder prüfte, merkte ich, dass Hubertus von links herannahende Objekte, z.B. eine Lampe, viel später wahrnahm, als es im rechten Gesichtsfeld der Fall war. Er hatte also einen Gesichtsfeldausfall, im medizinischen Fachjargon Hemianopsie genannt, was dafür sprach, dass der Tumor in die Sehstrahlung eingewachsen war. Bei der Sehstrahlung handelt es sich um ein Leitungssystem von Nervenendigungen, das das optische System des Auges mit dem Sehzentrum im hinteren Teil des Gehirnes verbindet. Das Sehzentrum sorgt dafür, dass alles, was wir sehen, auch bewusst wahrgenommen wird. Ich fragte Hubertus, ob er noch zeichnen könne.
»Selbstverständlich, das weißt du doch. Ich gebe Zeichenunterricht.«
»Gut, hier ist ein Blatt Papier und ein Bleistift, zeichne ein Fahrrad.«
Diese Aufgabe wäre noch vor einigen Monaten für Hubertus ein Leichtes gewesen, im Nu hätte er ein perfektes Fahrrad skizziert. Jetzt jedoch bekam er lediglich ein ungeordnetes Linienkonglomerat zustande. Ich malte einen dreidimensionalen Würfel auf das Papier: »Male den bitte nach.«
Auch das schlichte Nachmalen des Würfels misslang. Ich setzte mich wieder an den Schreibtisch und ordnete die Blätter mit den Zeichnungen in die Befundakte ein. Hubertus hatte eine konstruktive Apraxie, eine typische Symptomatik bei Störungen der rechten Hirnhälfte. Die konstruktive Apraxie ist der Verlust der Fähigkeit, komplexe Objekte zu erfassen und nachzuzeichnen.
»Das ist aber für einen berühmten Maler wie ich es bin fatal!«, rief Hubertus aus. Iris legte beruhigend ihre Hand auf seinen Arm. »Bei dir besteht eine Störung im Bereich des rechten Sehzentrums, so dass du linksseitig Dinge in der Peripherie nicht gut erkennen kannst. Das ist auch der Grund, warum du ständig gegen die Türrahmen rennst, wenn du durch eine Tür gehen willst; du kannst den linken Türpfosten einfach nicht sehen. Die Ursache ist dieser ziemlich große Tumor in der rechten Hirnhälfte.« Ich hatte seine MRT-Aufnahmen auf meinen Computer hochgeladen und zeigte den beiden das Bild. »Leider scheint es sich um keinen besonders gutartigen Tumor zu handeln, ich empfehle, dass unser Neurochirurg den Prozess entfernt, dann kann man die Gewebsproben mikroskopisch untersuchen und genau sagen, ob es gutartig oder bösartig ist. Falls der Tumor nicht gutartig ist, würde eine Bestrahlung und eine Behandlung mit einem Medikament, das die Zellteilung hemmt, einem sogenannten Zytostatikum, erfolgen.«
Das Ehepaar schaute mich verängstigt an: »Ist es ernst?«
»Ja, es ist eine ernste Erkrankung. Aber wir müssen das Beste daraus machen. Ich werde euch helfen.«
Schon eine Woche später wurde in einer siebenstündigen Operation der Tumor entfernt. Glück im Unglück, er lag so günstig, dass der größte Teil herausoperiert werden konnte, ohne dass eine Verschlechterung der Symptomatik eintrat. Professor Bornmeister, der Neurochirurg, teilte mir mit, dass er lediglich einen kleinen Tumorzapfen belassen musste, da anderenfalls das Hirnzentrum für die Motorik verletzt worden wäre und Hubertus an seinem linken Arm und seiner linken Hand Lähmungen davongetragen hätte.
Hubertus erholte sich von dem Eingriff erstaunlich schnell und trat auf eigenen Wunsch eine Kur in einer Rehabilitationsklinik auf
Weitere Kostenlose Bücher