Wahn
mir das allerdings schwer.
An einem der nächsten Tage las ich wie immer beim Frühstück in unserem Lokalblatt. Da ich aber schon spät dran war, konnte ich mich nur auf den politischen Teil beschränken. In der Klinik sagte nach der Morgenkonferenz einer der Kollegen: »Dass in unserer kleinen Stadt so etwas passiert, mitten am Tag die Kasse des Supermarktes auszurauben, kaum zu glauben.« Und ein anderer Kollege fügte hinzu: »Es soll fast eine Million geraubt worden sein, da sieht man mal, was in so einem Markt täglich eingenommen wird.«
Ich wurde hellhörig, wollte aber nicht glauben, dass dieser Vorfall mit Hubertus’ Drohung, »bis zu letzten Patrone« zu kämpfen, zusammenhängen könnte.
Am selben Abend saß ich mit einigen Freunden nach dem Sport noch auf ein Glas Bier zusammen. Mit am Tisch saß Günther Maurer, der Chef der Polizeidirektion. Natürlich wurde über den spektakulären Überfall gesprochen. Er dürfe gar nichts sagen, es würde ja noch ermittelt, wich Günther den bohrenden Fragen der Anwesenden aus. Ja, das Gerücht sei wahr, es waren zwei Männer gewesen, die den Supermarkt ausgeraubt hatten, aber mehr konnte er beim besten Willen nicht verraten. Sie seien einfach hereingekommen, und ehe die Sekretärin etwas mitgekriegt hatte, war sie schon gefesselt. Ja, der Geschäftsführer Hans Bernau sei auch ruckzuck gefesselt und geknebelt worden. Hans Bernau kannten wir alle sehr gut, er war auch Mitglied in unserem Tennisverein, ließ sich aber wegen des Verschleißes seiner Kniegelenke immer seltener auf dem Tennisplatz blicken.
Dann verriet der Polizeichef doch noch einige Details über den Überfall: »Einer der Täter war kleiner gewesen und wirkte in seinen Bewegungen etwas ältlich, der andere groß und kräftig, beide trugen Skimützen. Sie kamen gerade zu dem Zeitpunkt, an dem sonst immer der Geldtransporter gekommen war, der kam aber gerade an diesem Tag verkehrsbedingt etwas später, als schon alles vorbei war. So, jetzt ist aber gut, ich bitte euch, das vertraulich zu behandeln, ich habe schon viel zu viel erzählt.«
Hätte ich Günther von meinem Verdacht erzählen sollen? Ich kam zu dem Schluss, dass es nicht notwendig gewesen war. Denn eigentlich war ich überzeugt davon, dass Hubertus aufgrund seiner Orientierungsstörung und seiner Gehschwierigkeiten nicht in der Lage gewesen sein konnte, so eine komplexe Leistung wie den Überfall auf einen Supermarkt auszuführen.
In der nächsten Woche kam eine Einladungskarte von Hubertus: »Der Salonmaler Hubertus Tillmann erlaubt sich zu einem Atelierfest mit Verkauf einzuladen.«
Meine Frau und ich gingen hin. Hubertus trug ein gelbes Kopftuch nach Piratenart, das seinen kahlen Schädel bedeckte. Nach der Operation und der Bestrahlung hatte er eine komplette Glatze, und die zytostatische Therapie hinderte die Haare daran nachzuwachsen. Hubertus war an diesem Abend bester Laune, fast euphorisch. Wegen seiner Gehstörung saß er überwiegend im Sessel. Sein Gesicht war viel schmaler geworden, er wirkte erschöpft. Das Tumorleiden zehrte sichtbar an ihm. »Herzlich willkommen, Professore«, sagte er zu mir. »Im Atelier ist eine kleine Ausstellung, alles Sonderangebote, weit unter Preis, und du weißt ja, die Bilder eines toten Malers steigen im Preis, das Werk ist abgeschlossen und übersichtlich.« Er bleckte die Zähne: »Übrigens habe ich meine Angelegenheiten geordnet, genau so wie du es mir empfohlen hast. Darf ich dir Stanislaus vorstellen? Die meisten bekommen eine polnische Krankenschwester, wenn sie alt und hinfällig werden, ich habe mir einen männlichen Pfleger engagiert, Stanislaus ist stark und voller Energie.« Schon beim Betreten des Ateliers war mir der athletische, etwa dreißig Jahre alte Mann mit tätowierten Unterarmen aufgefallen, der hinter Hubertus stand. Dass es sich um einen Krankenpfleger handeln könnte, hatte ich allerdings nicht in Erwägung gezogen. »Angenehm, freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte ich irritiert.
Hubertus starb zwei Monate nach seinem Atelierfest im Kreise seiner Familie. Die Gangster, die seinerzeit den Supermarkt überfallen hatten, wurden nie gefasst. Einmal hieß es, dass in Berlin zwei Mitglieder einer rumänischen Bande unter dem Verdacht verhaftet worden seien, die Supermarkträuber zu sein, aber sie mussten aus Mangel an Beweisen wieder freigelassen werden.
°
sponsored by www.boox.to
°
CADASIL
Sebastian Kamps war Hausmeister. Nach seinem Abitur hatte er zunächst
Weitere Kostenlose Bücher