Wahn
der Liebe seiner Frau Sabine zu verdanken hatte.
Leider wurde sein Glück durch einen Umstand getrübt, und das waren die mörderischen Migräne-Anfälle. Zuerst wusste er nicht, dass es sich bei diesen Stunden, ja Tagen voller Kotzerei und hämmernder Kopfschmerzen um Migräneattacken handelte. Im Durchschnitt einmal im Monat wachte er mit unvorstellbaren Schmerzen im Kopf auf. Wenn ihm ein Arzt eine Skala vorlegte und ihn aufforderte, zwischen Null und Zehn eine Markierung zu machen, Null für gar keinen Schmerz und Zehn für unerträglichen Schmerz, nahm er den Stift und machte den Strich bei Zehn. Dazu kamen das Erbrechen und die Tortur, die ihm Geräusche oder grelles Licht bereiteten. Das Elend dauerte in der Regel zwei bis drei Tage. In dieser Zeit war er kaum in der Lage, zur Arbeit zu gehen. Erst nach und nach, meistens im Laufe des dritten Tages, konnte er wieder zu einem normalen und schmerzfreien Leben zurückkehren.
Eines Tages begann das Unglück. An diesem Tag schien die Sonne hell und der Himmel strahlte blau. Er räumte gerade Blumen und Äste weg, die am letzten Samstag bei einem Sommerfest des Herrn Doktors in den Beeten niedergetrampelt oder von den Bäumen gerissen worden waren, als Frau Kiessling auf die Terrasse trat. Sie hatte noch ihr Tennisdress mit weißem Röckchen und tiefblauem Poloshirt an. Ihm gefiel, wie das Sonnenlicht ihr rötlichblondes Haar zum Leuchten brachte. Wie eine Krone, dachte er bei sich. Außerdem fielen ihm heute ihre gut geformten und gebräunten Beine auf, die mit dem Rock mehr zur Geltung kamen als beim Sonnenbaden auf der Liege. »Sie Ärmster, jetzt in der Mittagshitze schuften Sie so sehr«, rief sie in den Garten zu ihm herunter, »kommen Sie auf die Terrasse, wir trinken im Schatten ein kühles Bier.« Froh über eine kleine Pause legte er den Rechen zur Seite und ging zum Haus. Er wollte noch rufen: »Für mich bitte kein Bier, das vertrage ich nicht.« Denn Alkohol generell und ganz besonders Bier wirkte bei ihm wie die Initialzündung der fürchterlichen Kopfschmerzattacken. Schon nach einem Glas meldete sich die Migräne, ein kurzes Vergnügen musste er wenig später bitter mit schlimmsten Schmerzen bezahlen. Aber schon war Frau Kiessling wieder auf der Terrasse. Sie trug ein Tablett mit zwei eisig beschlagenen Bierflaschen und stellte es auf den Verandatisch. »Setzen Sie sich doch, wir machen ein kleines Päuschen«, sagte sie munter und begann eines der Gläser zu füllen. Scherzhaft presste sie es an seinen Oberarm und sagte: »Ist es nicht phantastisch kalt? Ich hatte es den ganzen Vormittag in der Tiefkühltruhe.« Er spürte die Kühle des beschlagenen Glases und ihre weiche Hand. Sie füllte auch das zweite Glas, die Schaumkronen leuchteten verlockend, als sie näher rückte um anzustoßen. Nach dem ersten Schluck blieb noch ein kleiner Rest von Schaum auf ihrer Oberlippe. Das gefiel ihm. Er setzte sein Glas an und trank, und trank, und trank. Das tat gut. Frau Kiessling leerte ihr Glas ebenfalls in einem Zug. »Wunderbar, ich hole gleich noch zwei Flaschen«, sagte sie, und strich wie zufällig über die Innenseite seines Oberschenkels. Dann stand sie auf und ging ins Haus. Er saß da, wartete und war sich nicht sicher, wie er reagieren würde, wenn sie heute mehr von ihm wollte. Während er auf die Terrassentür schaute, bemerkte er rechts außen in seinem Gesichtsfeld eine unruhige, helle gezackte Linie, die sich immer stärker ausbreitete und binnen Sekunden sein ganzes Gesichtsfeld ausfüllte. Was für ein verdammtes Pech, dachte er. Die unruhige Zackenlinie kannte er nur zu gut, es handelte sich um den Vorboten eines Migräneanfalls, Aura genannt. Ich Idiot, hätte ich doch kein Bier getrunken, jetzt ist der ganze Tag versaut.
Als Frau Kiessling mit dem Tablett wieder auf die Terrasse trat, fragte sie besorgt: »Was ist denn mit Ihnen los? Sie sehen plötzlich so blass aus und zittern am ganzen Leib.«
»Es tut mir schrecklich leid«, antwortete er, »Migräne, ich leide an Migräne. Gerade jetzt hat ein heftiger Anfall begonnen.«
Sie goss für sich Bier in ein Glas und sagte: »Wie schade, es war gerade so gemütlich. Na, vielleicht ein anderes Mal.« Dann schaute sie ihn eindringlich an. »Aber warum gehen Sie nicht zu meinem Mann? Der ist Spezialist für Migräne. Sie müssen nicht ständig Kopfschmerzen haben, mein Mann hilft Ihnen, das kann ich Ihnen versichern. Ich besorge Ihnen einen Termin bei ihm.«
Sie gab ihm eine Karte, auf
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