Wahn
Pflege meiner Frau zu verdanken«, teilte er mir mit. »Stell dir vor, außer dir konsultieren wir auch noch einen Homöopathen, von dem bekomme ich jeden Tag Kügelchen zum Einnehmen, außerdem jede Woche eine Spritze mit tumorfeindlichen Mistelextrakten.«
»Dagegen habe ich überhaupt nichts, solange du nicht die Temodal-Therapie abbrichst.«
Es gingen zwei Jahre ins Land. In dieser Zeit wurde Hubertus bei guter Lebensqualität weiterbehandelt und kam regelmäßig zu Kontrolluntersuchungen. Oft saß er bei seinem Lieblingsitaliener, trank Rotwein und hielt lange Vorträge über Matthias Grünewald und Caspar David Friedrich. Kurz, es ging ihm richtig gut, nur eines konnte er nicht mehr so wie früher: malen. Der Tumor hatte den Teil des Gehirns unwiederbringlich zerstört, in dem die Fähigkeit lokalisiert war, Formen zu komponieren und räumliche Zusammenhänge zu erstellen. Für einen Maler mit Leib und Seele war dies ein besonders herber Schicksalsschlag. Er zeigte mir ein paar Versuche, das Porträt einer Frau, die im knallroten Badeanzug aus einem Swimmingpool stieg. Die Anlage des Bildes wirkte missglückt, die Frau hatte einen zu kurzen Hals, die Proportionen der Arme stimmten nicht und das Gesicht war eine Fratze. Vormals war Hubertus genial in der Darstellung sinnlicher Frauengestalten gewesen. Besonders erschütternd für mich war die Tatsache, dass er offensichtlich gar nicht wahrzunehmen schien, wie sehr sein Bild missglückt war. Im Gegenteil, er lächelte zufrieden und sagte: »Du siehst, der alte Meister hat noch nicht aufgegeben.«
Eines Tages rief mich Hubertus an, er könne plötzlich nicht mehr richtig gehen, die Füße gehorchten ihm nicht. Als ich ihn in meiner Sprechstunde untersuchte, stellte ich ein neues Symptom fest. Obwohl er in seinen Beinen keine Lähmungen hatte, war er nur unter Mühe in der Lage, sie zum Gehen einzusetzen. Sie gehorchten seinen Befehlen nicht mehr. Die Erklärung liegt darin, dass das Gehirn über zwei unterschiedliche Schaltzentralen verfügt, die eng miteinander zusammenarbeiten müssen, damit wir harmonische Bewegungen ausführen können. Das erste Zentrum wird »prämotorische Region« genannt und liegt im vorderen Teil des Gehirns. Hier entsteht der willentliche Impuls oder die Bereitschaft, eine Bewegung durchzuführen. Wir fassen zum Beispiel den Entschluss, eine Kaffeetasse zu greifen und zum Mund zu führen. Dieser Impuls wird dann auf das weiter hinten im Scheitellappen lokalisierte Bewegungszentrum übertragen, das dafür sorgt, dass die notwendige Bewegung des Armes und der Hand ausgeführt werden kann. Bei Hubertus war eine Blockade zwischen der Befehlszentrale und dem Bewegungszentrum entstanden. Das Hirnzentrum, das für die Motorik der Beine zuständig war, bekam jetzt nicht mehr den Befehl: »Gehen!«
Das konnte nur bedeuten, dass der Tumor nach mehr als zweieinhalb Jahren wieder angefangen hatte, weiterzuwachsen. Wir führten eine Magnetresonanz-Kontrolle durch und fanden tatsächlich, dass der Resttumor deutlich an Größe zugenommen hatte. Ich besprach diesen Umstand mit Hubertus und schlug eine Umstellung der bisherigen monatlichen Zytostatikatherapie auf tägliche kleinere Dosen vor. Der sah mich entschlossen an. »Klar, machen wir, wir werden das Mistding in meinem Kopf bekämpfen, aber glaube mir, ab jetzt wird an allen Fronten gekämpft, ab jetzt wird zurückgeschossen, bis zur letzten Patrone.«
Er nahm seinen Spazierstock mit edlem Silberknauf, den er in einem Antiquitätengeschäft erstanden hatte, und verließ mich auf wackligen Beinen mit trotziger Miene. Ich rief Iris an und informierte sie über die Untersuchungsergebnisse. Ich sagte ferner, dass ich mir über den psychischen Zustand von Hubertus große Sorgen machte und nicht ausschließen konnte, dass er etwas Unüberlegtes tun würde. Iris beruhigte mich. »Mach dir keine Gedanken, wir haben über die Möglichkeit einer Verschlechterung schon ausführlich gesprochen, Hubertus ist da ganz gefasst. Er ist dir dankbar für die Zeit, die er bisher haben konnte.«
Ich blieb nachdenklich an meinem Schreibtisch sitzen. Es war keine Frage: Hubertus beschäftigte mich mehr als jeder andere Patient. Als Arzt betreut man immer wieder sterbende und schwer kranke Patienten; das Mitfühlen und das Mitleid dürfen hierbei nicht übermächtig werden. Der Arzt muss bei allem Engagement eine Distanz zwischen dem Schicksal des Patienten und seinem eigenen Gefühlsleben wahren. Bei Hubertus fiel
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