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Wahn

Wahn

Titel: Wahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christof Kessler
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begonnen, Biologie zu studieren. Er fand es interessant zu erfahren, wie sich Leben organisiert, wie aus einer Befruchtung ein neuer Organismus entstehen kann, warum ein großer Baum wächst, nachdem in der Erde ein winziger Samen zu keimen beginnt. Aber schon nach kurzer Zeit begann ihn das akademische Getue zu langweilen, was kümmerte ihn der letzte Rezeptor auf einer Zellmembran und wie die Kofaktoren alle funktionieren und heißen und wo sie andocken oder warum sie nicht andocken. Kurzum, schon nach vier Semestern Biologiestudium beschloss er, es bleiben zu lassen, sein Leben grundlegend zu verändern und etwas Handfestes zu machen. Er gründete einen Hausmeisterservice mit dem Schwerpunkt Gartenpflege. Darüber hinaus bot er auch an, sich um weitere Erfordernisse eines Haushalts zu kümmern. Zum Beispiel garantierte er im Winter die Räumung der Einfahrten und Bürgersteige bei Schneefall noch vor sieben Uhr morgens. Nach den letzten schneereichen Wintern musste er sogar noch einige zusätzliche Arbeitskräfte einstellen. Es ging dann in der Regel mit dem Schneeräumen schon morgens um drei los. Im Frühling stand Heckenschneiden auf dem Programm, ab und zu wurde auch ein Baum gefällt, der die Sicht auf irgendetwas Wichtiges versperrte. Und für die verwöhnten Kinder seiner betuchten Kunden wurde auch schon mal ein Ikea-Regal aufgebaut. Seitdem es Ikea in Rostock gab, wurden immer mehr solcher Dinger gekauft und nicht nur in Jugendzimmern, sondern auch in Praxen, Kanzleien und Junggesellenwohnungen aufgestellt. Junggesellenwohnungen waren die Wohnungen, in die der Herr des Hauses ziehen musste, nachdem ihn die Ehefrau mit einem anderen Mann betrogen hatte, der mehr Freizeit hatte als er selbst. Um solche Einzelheiten kümmerte sich Sebastian Kamps allerdings nicht.
    Er arbeitete für Menschen, die den Euro nicht in der Tasche hin und her wenden mussten, ehe sie ihn ausgaben. Im Sommer standen die Häuser seiner Auftraggeber häufig leer. Die Familien, die schon immer hier wohnten, die Ostdeutschen also, verbrachten dann mehrere Wochen auf einer Datsche irgendwo an der Ostsee, in einem engen Häuschen oder einem Wohnwagen, um die Campingidylle zu genießen. Den anderen Teil seiner Kunden zog es in dieser Zeit in den Süden.
    Während dieser Zeit goss er den Rasen und die Blumenrabatte mit dem Wasser aus den Zisternen, in denen sich der Frühjahrsregen angesammelt hatte. Wenn es verbraucht war, nahm er auch vom teuren Trinkwasser. In den schlimmen sommerlichen Dürreperioden hatte das Überleben der Pflanzen in den Gärten der Kunden höchste Priorität. Nicht auszudenken, wenn der Hausbesitzer nach Hause gekommen wäre und die Pflanzen verdorrt vorgefunden hätte.
    Im Herbst wurde Holz gehackt, die Terrassen neu gepflastert und die Gärten winterfest gemacht. Es gab immer etwas zu tun.
    Durch das Baumfällen, Schneeschippen, Möbeltransportieren und Rasenmähen hatte er einen sehr ansehnlichen, muskulösen Körper bekommen. Verglichen mit den blässlich schlaffen Herren Amtsrichter, Chefärzten und Bauunternehmern, um deren Haus und Hof er sich kümmerte, war er, was Muskelaufbau und Körperhaltung betraf, ein Adonis.
    Deswegen musste er während seiner Arbeit so mancher Verlockung widerstehen. Die Ehefrau des Doktor Kiessling zum Beispiel zog sich an besonders heißen Tagen gelegentlich nackt aus und lag mit leicht gespreizten Beinen auf ihrem Liegestuhl, während er treu und brav um sie herum den Rasen mähte. Bei dieser Gelegenheit konnte er genau sehen, dass die Frau Gattin im Intimbereich bis auf einen kleinen dünnen Haarstrich komplett rasiert war. Er machte in diesen Momenten seine Gartenarbeit so schnell wie möglich fertig, um in Richtung Sabine zu entkommen.
    Sebastian Kamps war glücklich mit Sabine verheiratet. Sie stand jeden Morgen in aller Frühe mit ihm auf, um sein Müsli zuzubereiten und seine Stullen für den Tag fertig zu machen. Dabei hätte sie sich auch gut und gerne noch einmal umdrehen können, um weiterzuschlafen. Denn sie war Sachbearbeiterin in einer Behörde und hatte Gleitzeit. Wenn er abends müde nach Hause kam, lag Sabine häufig bereits im Bett. Aber wenn er unter ihr Laken schlüpfte, drehte sie ihm ihren schönen runden Hintern zu. Seine Ehe mit Sabine war der beste Garant dafür, dass die Tage trotz schwerer Arbeit mit kleinen Glücksmomenten vollgepackt waren. Tag für Tag verließ er die gemeinsame Wohnung in einer eisernen Ritterrüstung, die ihn beschützte und die er

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