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Wahn

Wahn

Titel: Wahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christof Kessler
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der zu lesen war: »Dr. med. Kurt Kiessling, Facharzt für Neurologie, Spezialsprechstunde Migräne und Kopfschmerz.« Daneben Telefonnummer und E-Mail.
    Ein paar Tage später stand Sebastian Kamps vor einer grell geschminkten Sprechstundenhelferin und sagte, dass er einen Termin bei Herrn Doktor hätte, jawohl, in der Privatsprechstunde, nein, nur AOK-versichert. Der Herr Doktor sah an seinem Arbeitsplatz nicht ganz so schlaff und zusammengefallen aus wie zu Hause, wenn er seine freien Nachmittage vor dem Plasmabildschirm des Fernsehers verbrachte. Hier in seiner Praxis wirkten der weiße Kittel und die weiße Arzthose wie eine Art Korsett, so dass er Sebastian etwas größer vorkam. Dennoch saß er in seinem schwarzen Ledersessel, als sei er mit Gewichten beschwert und würde von unsichtbaren Kräften daran gehindert, aufrecht zu sitzen. Dabei war er ganz und gar nicht unfreundlich. Als Sebastian erwähnte, dass er seinen Garten in Ordnung halte, flammte für einige Sekunden sogar so etwas wie Interesse auf, jedenfalls zog er seine buschigen Augenbrauen hoch und musterte Sebastian mit Neugierde. Sachlich und sehr gründlich befragte er ihn nach der Art der Kopfschmerzen, ob diese nur den halben Kopf beträfen, oder auch mal im ganzen Schädel hämmerten. Er fragte nach Auslösern der Schmerzattacken, zum Beispiel Schlafentzug oder Stress. Ferner wollte er wissen, wann die Kopfschmerzen normalerweise auftraten: aus dem Schlaf heraus, morgens, oder im Laufe des Tages. Als Sebastian die Schilderung der tagelangen Kopfschmerzzustände, der Übelkeit und des Elends beendet hatte, räusperte sich der Arzt und sagte, dass gar kein Zweifel bestünde, es läge eine handfeste Migräne vor, mit allem, was dazu gehört. Dann untersuchte er Sebastian körperlich. Während er mit seinem Hämmerchen auf dessen Beine und Arme klopfte, nahm sein Gesicht einen sorgenvollen und traurigen Ausdruck an. Er drehte den Reflexhammer um, damit er mit dem Hammerstiel heftig über die Fußsohle streichen konnte. Erschrocken zog Sebastian den Fuß zurück und rief: »Was soll das?« Dr. Kiessling ließ sich aber nicht beirren, hielt Sebastians Bein mit der einen Hand umklammert und bestrich mit dem umgedrehten Hammer seine empfindliche Fußsohle. »Halten Sie still, das ist wichtig«, schnaufte er dabei ungeduldig. Sebastian holte tief Luft und nahm sich vor, alles Notwendige über sich ergehen zu lassen.
    Wenig später saß Sebastian wieder angezogen vor dem pompösen Schreibtisch des Arztes. Obwohl ihm dieser selbstgefällige Mensch zutiefst unsympathisch war, war er ausgesprochen gespannt auf das, was der Arzt zu sagen hatte: »Ich muss bei Ihnen ohne Zweifel die Diagnose einer Migräne mit schweren Attacken stellen. Allerdings habe ich bei der Untersuchung nicht nur Normalbefunde erhoben, es gibt Hinweise, dass bei Ihnen eine Hirnerkrankung vorliegt, die die Ursache Ihrer Migräneanfälle sein könnte. Wir werden ein MRT durchführen, dann wissen wir mehr. Meine Sekretärin wird einen Termin für Sie erfragen und Ihnen Bescheid geben.«
    Beunruhigt fragte Sebastian, was denn nicht in Ordnung sei, aber der Doktor hatte mit ihm offensichtlich schon abgeschlossen und schien sich für ihn nicht mehr zu interessieren. »Wir werden sehen«, murmelte er, er hatte sich schon in die Akte des nächsten Patienten vertieft.
    Jedermann wird verstehen, dass Sebastian durch diesen Besuch beim Neurologen nicht besonders beruhigt war und er aus diesem Grund ausgesprochen schlecht schlief, mehrfach musste er seinen vollgeschwitzten Pyjama wechseln. Schon am nächsten Morgen kam ein Anruf aus der Praxis von Dr. Kiessling, es sei im MRT überraschend ein Termin frei geworden, er könne schon heute um zwölf Uhr zur Untersuchung kommen.
    So lag er früher als gedacht in dem engen Tunnel des MRT. Damit er die Aufnahmen nicht verwackelte, war sein Kopf festgeschnallt. Dann begann das Gerät lärmend zu arbeiten. »Sei vernünftig«, sagte er zu sich, »du hast keine Klaustrophobie, die hast du nie gehabt. Es ist bald überstanden.« Aus Kopfhörern drang klassische Musik, ein lautes pathetisches Stück, wahrscheinlich Beethoven. Er hörte das Rattern des Tomographen, der Schicht für Schicht sein Gehirn abscannte. Nach einer Ewigkeit wurde es endlich wieder still. »Wie lange war ich da drin gewesen?«, fragte er die Assistentin, die ihm wieder auf die Beine half. »Knapp fünfzehn Minuten«, war die Antwort. Er konnte das kaum glauben, denn ihm war es wie

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