Wahn
nahmen mehr als die Hälfte des Bücherregals seines Arbeitszimmers ein. Wann hat Kleist sich erschossen? Wie alt ist Salvador Dali geworden? Hat das Wort »Exodus« einen griechischen oder lateinischen Ursprung? Heute tippt man einfach den Begriff »Exodus« in Google ein und erfährt alles über den Wortstamm, den Film namens »Exodus« und eine Trash-Band gleichen Namens.
Zu Hause klickte er den Wikipedia-Eintrag für das CADASIL-Syndrom an, der gemessen daran, dass es sich um eine sehr seltene Krankheit handelte, erstaunlich ausführlich war. Neben dem, was ihm der Dr. Kiessling bereits mitgeteilt hatte, erfuhr er, dass bei ihm ein Gen verändert war. Es produzierte auf Grund eines falschen Befehls in seinem Erbgut in jeder Stunde, in jeder Minute einen fehlerhaften Eiweißstoff, mit dem sein Körper nichts anfangen konnte. Dieser Stoff macht im Laufe der Jahre die Arterien kaputt, die das Gehirn mit Blut versorgen, so dass die Durchblutung des Gehirns zusammenbricht. Es hieß da wörtlich: »CADASIL ist eine genetische Erkrankung, die zu familiär gehäuften Schlaganfällen im mittleren Lebensalter führen kann.« »Gott sei Dank haben Sabine und ich noch keine Kinder«, dachte er bei sich. Obwohl Sabine jetzt immer öfter mit diplomatischen Bemerkungen wie »Wir werden auch nicht jünger« und »Ich finde alte Eltern albern« einen Handlungsbedarf in dieser Hinsicht anmahnte, war er jeder Diskussion dazu aus dem Weg gegangen. Unter dem Gesichtspunkt einer unheilbaren Erkrankung war diese Frage nun ohnehin obsolet geworden. »Ich würde das ganze Elend nur an meine Kinder vererben«, ging es ihm durch den Kopf. »Stadium III. Demenz, Bewegungsstörung Spastik, Pseudobulbärparalyse« , las er weiter. Unter dem Stichwort »Pseudobulbärparalyse« fand er »Sprechstörungen, Beeinträchtigungen der Zungenbeweglichkeit, Schluckstörungen, Zwangslachen und Zwangsweinen« .
Zum Abschluss hieß es bei Wikipedia: »Eine wirksame Behandlung des CADASILS ist nicht bekannt. Dies relativiert auch den Bedarf nach einer frühen Feststellung der Diagnose. Eine frühzeitige Patientenverfügung ist zu empfehlen.« War das nicht genau das, was er diesem Kiessling gesagt hatte? Was habe ich davon, wenn ich weiß, dass ich in zwanzig oder dreißig Jahren dement werde? Warum wollte er unbedingt wissen, ob ich CADASIL habe oder nicht? »Dies relativiert auch den Bedarf nach einer frühen Feststellung der Diagnose« , stand da vor ihm auf dem Schirm seines Computers. Mit anderen Worten, weil man nichts tun kann, und weil es soundso schlimm enden wird, musste man auch nicht wissen, dass man die Krankheit, die CADASIL genannt wurde, hat. Bei Krebs zum Beispiel, dachte er, während er an einem kalt gewordenen grünen Tee nippte, den Sabine ihm gebracht hatte. Bei Krebs ist das alles anders, da wird die Diagnose gestellt und dann beginnt die Phase der Behandlung, der Arzt kämpft mit dem Patienten um dessen Leben. Bei CADASIL hingegen ist dies nicht der Fall. Man kann nichts machen, man kann nicht um sein Leben oder für seine Gesundheit kämpfen. Es ist vorbei, das Buch ist geschlossen. Es war klar, dass er als Pflegefall enden würde. Und dieser Dr. Kiessling, ein feiner Arzt war das, er wollte nur seine persönliche Neugierde befriedigen. Er hat ihn behandelt, als wäre er ein Ausstellungsstück in einer Sammlung von seltenen Krankheiten. Er war nur neugierig gewesen, schon als er sein Blut an das Institut in München geschickt hat, hatte er den Verdacht, dass es sich um eine unheilbare Krankheit handeln könnte. Warum also wollte er es so genau wissen? Sebastian zermarterte sich das Gehirn, die Gedanken kreisten, kamen und gingen, es wurde immer düsterer um ihn, er stürzte in die Tiefe und fand keinen Halt. Immer stärker fixierten sich seine Überlegungen an die Idee, dass es der Arzt war, der an allem schuld war und durch seine Unmenschlichkeit seinem glücklichen Leben ein Ende bereitet hatte.
»Schatz, es ist schon spät, komm bitte«, rief Sabine aus dem Schlafzimmer. »Ich habe noch zu tun, schlaf schon mal«, war seine Antwort. Mit Sabine konnte er das Problem nicht besprechen, denn sie lebte glücklich und zufrieden im Hier und Jetzt, ruhte in sich. Sie würde es nicht ertragen, ihn unglücklich zu sehen. Sie hatte noch eine Zukunft vor sich, er nicht mehr.
In der folgenden Zeit hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, das Haus der Kiesslings zu beobachten. Wenn er dann hinter der Hecke stand und den Arzt und seine
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