Wahn
Minuten, da war das beschauliche Hotelzimmer bevölkert vom Personal des Rettungshubschraubers Christoph 1, der auf dem naheliegenden Strand gelandet war. Eine Traube von nur dürftig bekleideten Touristen beobachtete den Abtransport des komatösen Patienten mit dem Hubschrauber und dessen spektakulären Abflug. Die Rotorblätter entfachten beim Start einen wahren Sandsturm.
Am nächsten Tag berichtete Doktor Hullbrinck, einer unserer Oberärzte, über seinen Nachtdienst. »In der Inneren wurde heute Nacht ein zweiunddreißig Jahre alter Patient aufgenommen, stabiler Zustand nach Selbstmordversuch mit einer Überdosis an Schlaftabletten, fehlende Krankheitsverarbeitung, nachdem ein niedergelassener Kollege ein CADASIL-Syndrom diagnostiziert hatte.«
»Niedergelassener Kollege?«, bemerkte ich kritisch. »Solche Diagnosen sollen die der Klinik überlassen, was für ein Kollege war es denn?«
»Der Doktor Kiessling.«
»Na, der neigt gewaltig zur Selbstüberschätzung, hat so viel zu tun, dass er sich vor Arbeit kaum retten kann und will alles alleine machen. Was ist mit dem Patienten?«
»Ich würde ihn gerne zu uns übernehmen«, war die Antwort des Kollegen. »Wir sollten noch einmal schauen, ob die Diagnose wirklich stimmt.«
»Ich dachte, die Diagnose steht schon fest? Was macht es dann für einen Sinn, ihn zu übernehmen?«, war meine Frage. Doktor Hullbrink wurde etwas verlegen: »Meine Frau ist die Schulkameradin der Frau des Patienten, und die ist völlig verzweifelt. Der Patient hat ihr die Diagnose bisher verschwiegen. Jetzt bittet sie dringend, dass wir uns um ihren Mann kümmern und die Diagnose noch einmal überprüfen.«
»Also gut, Sie wissen aber, dass wir momentan überbelegt sind und jedes Bett dringend brauchen.«
Als ich einige Tage später auf der Station Visite machte, sagte der Stationsarzt vor der Tür des Krankenzimmers: »Wir kommen gleich zum Patienten Sebastian Kamps«, er lächelte verschwörerisch, »Sie wissen sicher noch, der Mann der Klassenkameradin von Doktor Hullbrinks Frau. Die Diagnose CADASIL scheint korrekt zu sein. Er macht uns Sorgen, er ist so schwer depressiv, dass immer noch der Verdacht besteht, dass er Selbstmordabsichten hat.«
»Wenn er suizidal ist, können wir ihn nicht hierbehalten, dann müssen wir ihn in die Psychiatrie verlegen«, sagte ich. Es war eine wichtige Regel in unserer Klinik: Patienten mit Selbstmordabsichten durften nicht in unserer Klinik bleiben, sie mussten auf eine geschlossene Station in die psychiatrische Klinik verlegt werden, wo sie vor sich selber geschützt und therapiert werden konnten.
»Wir sprechen erst einmal mit ihm.«
Als ich den Raum betrat, lag der Patient auf seinem Bett, er hatte die Augen geschlossen und hörte über Kopfhörer Musik. Er öffnete kurz seine Augen, blieb aber weiter apathisch liegen. Ich sagte: »Guten Morgen, Herr Kamps, wir kommen zur Visite, können Sie bitte Ihre Kopfhörer abnehmen?«
»Lassen Sie mich in Ruhe, was soll das Ganze noch, ich bin unheilbar krank, das wissen Sie doch, was wollen Sie von mir? Ich will nach Hause, um zu tun, was zu tun ist.«
Ich sagte ihm, dass niemand wissen könne, wie lange er noch zu leben habe. Es gäbe viele Menschen mit chronischen Krankheiten, deren Lebensspanne viel geringer sei, und die trotzdem ihr Leben bewältigten. Er müsse sich mit seiner Diagnose auseinandersetzen und sie akzeptieren. Wenn er es wünsche, würden wir ihm dabei helfen, noch am selben Tage würde unsere Psychologin sich mit ihm unterhalten, damit er lerne, mit seiner Problematik umzugehen.
»O.K., ich bleibe hier. Vielleicht finden Sie ja heraus, dass dieser Herr Dr. Kiessling mit seiner Diagnose danebenlag.«
»Sie müssen uns vorher Ihr Ehrenwort geben, dass nichts passiert, wir müssen uns auf Sie verlassen können.«
Sebastian Kamps stand auf, trat auf mich zu, ergriff meine Hand und sagte: »Ich verspreche, dass ich mir nichts antue. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort.«
Ich ergriff die sich mir entgegengestreckte Hand mit kräftigem Druck: »Ich verlasse mich auf Sie.« In unseren Zeiten gilt ein Ehrenwort eigentlich nicht sehr viel. Die Ehefrau, der Geschäftspartner und die Medien werden nahezu gewohnheitsmäßig betrogen und unzählige Ehrenworte und Versprechen gebrochen. Doch wusste ich aus meiner Erfahrung, dass einem in diesem Zusammenhang gegebenen Ehrenwort zu vertrauen ist. »Gut, Sie bleiben bei uns. Wir klären die Diagnose und Sie bekommen noch heute einen Termin bei
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