Wahn
eine Ewigkeit vorgekommen. Nach der Untersuchung trat er an die Konsole im Vorraum. Eine junge und sehr dicke Ärztin saß vor einem der Bildschirme und schaute sich die Aufnahmen an, die der Computer von seinem Gehirn gemacht hatte.
»Was sehen Sie? Frau Doktor, ich bin sehr beunruhigt, können Sie etwas sagen?«
»Das wird Ihnen Herr Dr. Kiessling erklären, der zuweisende Neurologe, ich bin nicht befugt, Ihnen Auskunft zu geben, allerdings … so ganz normal ist das hier nicht.«
»Ich werde noch verrückt, wenn Sie mir nicht augenblicklich sagen, was los ist!«, rief er aus, erntete jedoch nur einen strengen Blick der Ärztin. »Mäßigen Sie sich! Ich sagte Ihnen doch, dass ich den Patienten keine Auskunft geben darf, und zwingen lasse ich mich schon gar nicht.«
Sebastian wusste nicht, wohin mit seiner Angst und Wut, am liebsten hätte er diese dicke Person genommen und an den Haaren durch den Computerraum geschleift. Mit Mühe und Not konnte er sich beherrschen. »Ich werde mich bei Ihrem Chef über Sie beschweren!«, brachte er hervor, »außerdem bei der Ärztekammer, und ich schreibe einen Leserbrief an die Ostseezeitung!«
Sie schaute etwas wacher, taxierte ihn, wie um zu erfahren, ob er wirklich alle diese Drohungen wahr machen würde oder nur einer der vielen armen Irren war, denen sie tagein, tagaus begegnete.
»Also gut, ich mache es aber freiwillig.« Ihre Patschhändchen bewegten blitzschnell die Maus des großen Computers, und Sebastian versuchte mit hektischen Augenbewegungen dem Pfeil auf dem Bildschirm zu folgen. »Da, da und da, das sind helle Flecken, die da nicht hingehören.«
»Was bedeutet das?«, fragte er ängstlich.
»Es sieht so aus, als hätten Sie schon mehrere Schlaganfälle gehabt.«
»Aber ich habe doch nur Migräne, ich habe doch noch nie einen Schlaganfall gehabt!«, rief er verzweifelt aus.
Jetzt schaute die Ärztin richtig wütend, und die kleinen braunen Augen funkelten böse unter den getuschten Wimpern hervor. Mit strengem Ton sagte sie: »Das ist genau das, was ich Ihnen gesagt habe, meine Information nutzt Ihnen überhaupt nichts, Sie müssen das mit Ihrem Neurologen, Herrn Dr. Kiessling, besprechen. Ich weigere mich hiermit, noch weiter mit Ihnen zu sprechen, und fordere Sie auf, diesen Raum zu verlassen. Hier ist im Übrigen der Aufenthalt für Patienten nicht gestattet und dann können Sie sich von mir aus beim Gesundheitsminister über mich beschweren.«
Einen Tag später saß Sebastian wieder vor Dr. Kiesslings Schreibtisch. Der hatte die mitgebrachte CD in eine schicke Apple-Konsole geschoben und betrachtete die Schnittbilder von Sebastians Gehirn mit großem Interesse: »Das ist interessant, sehr interessant«, murmelte er, »da hatte ich doch den richtigen Riecher. Habe ich es Ihnen nicht gesagt?« Er schaute seinen Patienten triumphierend an. »Sie haben keine normale Migräne. Das, was Sie haben, ist viel komplexer.«
»Um ehrlich zu sein, Herr Doktor«, sagte Sebastian unsicher, »haben Sie über meine Krankheit mit mir überhaupt noch nicht viel geredet.«
Dr. Kiessling richtete sich in seinem Ledersessel auf, er saß plötzlich ganz gerade und sagte in einem beinahe feierlichen Tonfall: »Ich vermute eine ganz spezielle Form der Migräne, die aufgrund einer vererbbaren Erkrankung entsteht. Ich nehme Ihnen Blut ab, und in drei bis vier Wochen wissen wir Bescheid. Wenn das Resultat da ist, machen wir einen Termin für das Abschlussgespräch.«
Die Helferin nahm Sebastian in einem weißgekachelten Raum Blut ab. Dieser Dr. Kiessling schien durchaus kompetent zu sein. Aber er war ihm trotzdem total unsympathisch. Er musste an Kiesslings Frau denken, die sich wahrscheinlich gerade in ihrem Liegestuhl auf der Terrasse sonnte und sich darüber freute, dass sie nicht den ganzen Tag mit diesem Typen zusammen sein musste.
Drei Wochen später saß Sebastian Kamps wieder Herrn Dr. Kiessling gegenüber.
»Wie ich bereits vermutet habe, handelt es sich bei Ihnen um ein relativ frühes Stadium einer CADASIL-Erkrankung.«
»Einer was?«
»Ich weiß, das ist ein ungewöhnlicher Name, es handelt sich um eine Erkrankung, die sehr selten vorkommt.«
Sebastian erfuhr, dass sich vor nicht einmal zehn Jahren eine Gruppe von Wissenschaftlern den Namen CADASIL ausgedacht hatte. Es handelt sich um ein Kunstwort aus den Anfangsbuchstaben der verwirrenden Bezeichnung: » C erebrale A utosomal d ominant vererbbare A rteriopathie mit s ubkortikalen I nfarkten und L
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