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Wahn

Wahn

Titel: Wahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christof Kessler
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unserer Psychologin.«
    Unsere Psychologin kam am Nachmittag in mein Büro und sagte, dass sie sich Sorgen mache um den Patienten Sebastian Kamps. Sie habe mit ihm ein längeres Gespräch geführt. Er bewältige die Diagnose nicht alleine und sei dermaßen aus dem Tritt gekommen, dass sie eine längere stationäre Psychotherapie für notwendig erachte.
    Ich rief daraufhin den Direktor unserer psychiatrischen Klinik an und schilderte ihm den Fall. »So ein Unsinn, mit der Diagnose überlebt er locker jeden Raucher«, sagte er. »Stimmt die Diagnose denn überhaupt?«
    »Wir haben alles überprüft, es besteht kein Zweifel, dass der Patient die genetische Veränderung hat, die zu einer CADASIL-Erkrankung führt, dafür sprechen auch die charakteristischen Befunde des MRT. Wir haben darüber ausführlich mit Herrn Kamps gesprochen«, sagte ich. »Was er jetzt braucht, ist professionelle Hilfe bei der Krankheitsbewältigung.«
    »Von Krankheitsbewältigung können wir doch gar nicht sprechen«, sagte der Psychiater. »Der Patient ist ja aktuell gar nicht krank. Es geht um die Bewältigung der Möglichkeit einer Krankheit, dann müssten wir alle Bundesbürger in Therapie nehmen. Aber gut, ich schaue ihn mir einmal persönlich an.«
    Nach einem längeren Gespräch mit dem Psychiater erklärte sich Sebastian Kamps zu einer stationären Psychotherapie bereit.
    Wochen später sagte Oberarzt Hullbrink zu mir: »Ich soll Sie übrigens von Frau Kamps grüßen, Sie wissen, der Ehefrau des Patienten mit CADASIL, sie ist sehr dankbar, wie es gelaufen ist. Herr Kamps war mehr als vier Wochen in stationärer Psychotherapie, er ist jetzt stabil und fängt gerade an, wieder zu arbeiten.«
    Zu dieser Zeit fuhr ich, wenn das Wetter es erlaubte, mit dem Fahrrad zur Klinik. Der Weg führte mich durch eine kleine Siedlung und am Haus der Kiesslings vorbei. Ich wunderte mich, dass dort neuerdings immer die Jalousien heruntergelassen waren, morgens wie abends. Als ich eines Tages den Angestellten eines Paketdienstes im blauen Overall das Kiesslingsche Gartentor schließen und zu seinem Transporter gehen sah, hielt ich an und fragte: »Sind die Kiesslings ausgezogen oder für längere Zeit verreist?«
    Er schaute mich an und schüttelte den Kopf: »Keine Ahnung, ich versteh das auch nicht. Erst tagelang die kaputte Scheibe und jetzt schon seit Wochen die Fensterläden geschlossen. Keine Ahnung, was da los ist.«

DER GRAPSCHER
    Hans Michalek wurde nach einem epileptischen Anfall als medizinischer Notfall in unserer Klinik aufgenommen. Er war persönlicher Referent eines Bundestagsabgeordneten, der in unserem Städtchen sein Büro unterhielt. Bei offiziellen Gelegenheiten stand er stets neben seinem Dienstherrn und soufflierte ihm die richtigen Stichworte. Das war dringend notwendig, denn er musste verhindern, dass sich der übergewichtige Politiker zu stark in seine vielen Nebensätze, mit all den unzähligen Wenns und Abers, verstrickte. An sich war Hans Michalek der geborene Politiker, allerdings entfaltete er sein politisches Talent im Hintergrund am effektivsten. In der zweiten Reihe lief er regelmäßig zur Höchstform auf. Er verfügte über beste Beziehungen sowohl zum Rathaus als auch zu der örtlichen Zeitung und traf sich zu vertraulichen Gesprächen mit Geschäftsleuten und Bankern. Für seinen Chef war er als Mitarbeiter von unschätzbarem Wert.
    Zu »DDR-Zeiten« hatte Hans Michalek Sport studiert. Allerdings wusste niemand, ob er sein Studium jemals beendet hatte oder nicht, aber das spielte jetzt auch keine Rolle. In seiner derzeitigen Position in der Schaltzentrale der Politik des kleinen Universitätsstädtchens war ein Hochschulabschluss gar nicht gefordert. Was er brauchte, war eine Menge Fingerspitzengefühl und sehr viel diplomatisches Geschick. Dass sein Chef regelmäßig mit über 60 % der Stimmen wiedergewählt wurde, hatte dieser unter anderem auch Hans Michalek zu verdanken. Die Partei des Abgeordneten sank zwar beständig in der Wählergunst, er selbst aber behielt nach wie vor die Nase vorn, und keiner seiner politischen Gegner war in der Lage, ihm sein Mandat abzujagen.
    Nicht zuletzt wegen seines zurückliegenden Sportstudiums war Hans Michalek zum Vorsitzenden des Fußballvereins und des Kanusportvereins der Stadt gewählt worden. Das hatte zur Folge, dass er so manchen Abend im Clublokal bei Bier und Korn verbringen musste und sich eher selten zwischen seinen eigenen vier Wänden aufhielt, in denen seine Frau

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