Wahn
Frau auf der Terrasse in ihren vornehmen Gartenmöbeln sitzen sah, überkam ihn jedes Mal eine Welle kaum beherrschbarer Wut. Auf eine rätselhafte Art und Weise befriedigte ihn diese Art der Heimlichkeit aber auch, so als ob die Tatsache, dass er das Intimleben des Arztes und seiner Frau ausspionierte, eine Rache für das erlittene Unrecht wäre.
Heute stellte er wieder sein Fahrrad hinter der Hecke zum Brachland ab und schlich zu seinem gewohnten Observationsplatz. Erst gestern war er in offizieller Funktion als Gärtner auf dem Grundstück gewesen. Er hatte den Garten für den Herbst fertig gemacht, die verblühten Blumen abgeschnitten, eine gelb gewordene Eibe ausgegraben und durch eine neue Pflanze ersetzt. Den Herrn Doktor hatte er dabei, wie sonst auch, nicht zu Gesicht bekommen, da dieser, wie die Frau Doktor meinte, »mit seiner Praxis verheiratet« wäre und schon vor acht Uhr mit seinem Porsche in Richtung Stadt gefahren war. Vor sieben Uhr abends käme er nie nach Hause. Nachdem er seine Arbeiten erledigt hatte, war er zum Haus gegangen, um seine Bezahlung entgegenzunehmen. Da er Frau Kiessling draußen nicht sehen konnte, zog er seine Arbeitsschuhe aus und betrat durch die Verandatür das Haus. Sie saß frisch geduscht in einem weißen Bademantel in der Küche und schälte einen Apfel, um die Haare hatte sie ein Frotteetuch geschlungen. »Ich wollte nur Bescheid geben, dass ich fertig bin«, sagte er und starrte auf ihr beachtliches Dekolleté. Während sie sich bückte, um aus ihrer Handtasche das Geld zu fingern, konnte er für einen kurzen Moment eine ihrer tiefrot gefärbten Brustwarzen sehen. »Wie wäre es mit einem Bier? Oder einer schönen Tasse Kaffee?«, fragte sie. »Nein, nein, ich muss weiter« konnte er gerade noch herausbringen, bevor er aus dem Haus eilte.
Heute war die Terrasse leer, darum quetschte er sich durch die Hecke und betrat den Garten. Dr. Kiessling saß mit einem großen Glas Rotwein in der Hand vor seinem riesigen Fernseher. Sebastian trat ganz nahe an das Fenster, um sich das müde, abgespannte Gesicht des Arztes näher anzuschauen. Was ging wohl in so einem Menschen vor, der Herr über Leben und Tod so vieler Menschen war? In diesem Moment kam Frau Kiessling herein, sie stellte eine Schale Cracker vor ihren Mann. Dabei lachte sie und sprach lebhaft auf ihn ein. Schließlich beugte sie sich zu ihm, nahm seinen Kopf in ihre Hände und küsste ihn auf den Mund. Bisher hatte er stets das Gefühl, dass Frau Kiessling ihm Avancen machte, weil sie unglücklich war und ihr Mann sie nicht interessierte. Bei dem Anblick des vertrauten Umgangs des Ehepaares miteinander übermannte ihn fast so etwas wie Eifersucht, so, als hätte er sich ein Anrecht auf diese Frau erworben. Er sah die ungeteilte Fensterfront des repräsentativen Terrassenfensters vor sich. In ihr spiegelten sich die zartroten Blüten des Oleanders, den er am Nachmittag gegossen hatte.
Eine riesige Hummel flog auf geradem Weg auf die Scheibe zu und prallte mit einem lauten Knacken dagegen. Das Geräusch des aufprallenden Insektes war in der Stille des Gartens so laut, dass selbst der Doktor kurz aufschaute. Sebastian hatte das Gefühl, als wäre in diesem Moment die riesige Scheibe in sanfte Schwingungen versetzt worden. Auch in sich spürte er eine starke Spannung, ein Vibrieren und Zittern. Auf seiner Stirn begannen sich kleine Schweißperlen zu bilden. Wie in Trance löste er einen lockeren Feldstein aus der Mauer des Steingartens. Er umfasste den Stein mit seiner verschwitzten Hand und starrte auf das spiegelnde Glas. In seinem Kopf kreisten die Gedanken. CADASIL, Demenz, Doktor Kiessling, rote Brustwarze, er wurde von einem Strudel erfasst, der ihn mit aller Kraft zu Boden ziehen wollte, er taumelte und hielt noch immer den wurfbereiten Felsbrocken in seiner Hand.
Später fuhr er mit seinem Fahrrad wie betäubt nach Hause. Die Fahrt durch das kleine Wäldchen half ihm, zu sich zu kommen. Er fasste einen Entschluss, plötzlich wusste er, wie es weitergehen sollte.
Als das Zimmermädchen des Hotels in der kleinen Stadt an der Ostsee das Zimmer Nr. 7 öffnete, um es für die Nacht zu richten, fand sie Sebastian Kamps bewusstlos auf dem Bett liegen. Das Schild »Bitte nicht stören«, das Sebastian außen an der Türklinke angebracht hatte, hatte ein abreisender Gast im Vorbeigehen als Souvenir in seine Tasche gesteckt. Dieser Umstand hat Sebastian offensichtlich das Leben gerettet. Es dauerte keine zehn
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