Wahn
eukoenzephalopathie«. Später recherchierte er sich die Bedeutung dieser komplizierten Bezeichnung mit Hilfe von Google und Wikipedia zusammen: CADASIL ist eine vererbbare Erkrankung, wobei der Begriff »dominant« bedeutet, dass für die Nachkommenschaft eine Fifty-Fifty-Gefahr besteht, die Krankheit vererbt zu bekommen. »Arteriopathie mit subkortikalen Infarkten« heißt, dass es sich um eine Erkrankung der Hirnarterien handelt, die dazu führt, dass man Schlaganfälle bekommt, und zwar unterhalb der Hirnrinde. In der Hirnrinde sind die Nervenzellen gebündelt, und unterhalb der Hirnrinde (also subkortikal) verlaufen die Leitungsbahnen, die die verschiedenen Hirnzentren miteinander verbinden. Wenn diese Leitungsbahnen durch einen Schlaganfall unterbrochen sind, bezeichnen die Ärzte das als subkortikalen Infarkt, und alles zusammen wird auch Leukoenzephalopathie genannt. Als interessierter Laie, der einen Hausmeisterservice betrieb, fand Sebastian, dass man für diese Krankheit auch einen einfacheren Namen hätte finden können.
»Und wie geht es jetzt weiter?«, fragte er besorgt den Arzt. »Wie werde ich jetzt behandelt? Bedeutet das, dass ich schlaganfallgefährdet bin?«
»Es führt zu weit, dass ich Ihnen das alles im Einzelnen erkläre, als Handwerker würden Sie das wahrscheinlich nicht verstehen.«
»Herr Doktor Kiessling, veräppeln kann ich mich selber!«, rief Sebastian erbost und ungeduldig. »Ich habe vier Semester Biologie studiert, bevor ich mit dem Hausmeisterservice begonnen habe, ich würde es schon verstehen, wenn Sie mir die Krankheit erklären würden.«
Dr. Kiessling zog verwundert die Augenbrauen hoch und schaute Sebastian zum zweiten Mal etwas länger an.
»Also gut, bei dem CADASIL handelt es sich um eine vererbbare Krankheit, sie geht mit migräneartigen Kopfschmerzen einher, es kommt unaufhaltsam zu krankhaften Veränderungen der Hirnarterien, so dass im Laufe der Zeit das Gehirn insgesamt nur schlecht mit Sauerstoff versorgt wird und Teile davon untergehen.«
»Was für Symptome sind zu erwarten?«, fragte Sebastian besorgt.
»Eine Demenz, Verlust des Gedächtnisses wie zum Beispiel bei der Alzheimer-Erkrankung.«
»Herr Doktor, ich bin jetzt 32 Jahre alt, ich habe mein Leben noch vor mir, wann ist mit dem Gedächtnisverlust zu rechnen?«
»Sie befinden sich noch in der ersten Phase der Erkrankungen, der Verlauf ist von Patient zu Patient ganz unterschiedlich, so dass ich Ihnen Ihre Frage nicht genau beantworten kann. Auf jeden Fall entwickeln sich die Symptome schleichend. Mit der Demenz ist eventuell ab dem fünfzigsten oder sechzigsten Lebensjahr zu rechnen.«
»Eventuell oder sicher?«, fragte Sebastian aufgeregt.
»Sicher«, war die Antwort. Der Arzt seufzte, und wieder schien sein Interesse für den Patienten rapide zu schwinden.
»Wie kann man das verhindern, wie kann man den Ausbruch der Demenz verhindern?«
»Es gibt keine Behandlung. Es handelt sich um eine vererbbare Erkrankung, die schicksalhaft ihren Verlauf nimmt.«
»Aber, warum haben Sie denn um Gottes willen so genau wissen wollen, ob ich die Krankheit habe oder nicht? Warum haben Sie mein Blut in ein Speziallabor geschickt? Sie können doch ohnehin nichts tun, was hat das Ganze für einen Sinn gehabt? Vor allem: Wie soll ich denn jetzt weiterleben?«
Dr. Kiessling schaute jetzt sehr streng auf seinen Patienten: »Herr Kamps, ich finde, jetzt werden Sie aber unverschämt. Ich habe Sie auf Wunsch meiner Frau untersucht. Ohne Rechnung. Es war ein Entgegenkommen von mir. Selbstverständlich muss ich als Arzt eine Diagnose stellen, bevor ich eine Behandlung beginne. Bei Ihnen besteht eine Migräne, aber Migräne ist nicht gleich Migräne, es gibt symptomatische Formen, zum Beispiel kann ein Hirntumor oder eine Anomalie der Blutleiter die Symptome einer Migräne imitieren. Bei Ihnen liegt eben das CADASIL-Syndrom als Ursache Ihrer Migräneanfälle vor. Selbstverständlich musste ich die Diagnose stellen, dazu bin ich als Arzt verpflichtet. Ich schreibe einen Brief an Ihren Hausarzt, mit dem können Sie die Einzelheiten besprechen.« Er stand auf und gab Sebastian zum Abschied frostig die Hand.
Sebastian war erklärter Fan von Wikipedia. Der Vater einer früheren Freundin, ein Studienrat, hatte beim Kaffeetrinken, Mittagessen oder jeder anderen sich bietenden Gelegenheit die Angewohnheit, mitten im Gespräch aufzustehen und strittige Fragen im ehrwürdigen Brockhaus nachzuschlagen. Dessen gesammelte Bände
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