Wahn
holen gehen. Stattdessen lag er auf der Couch und wechselte in regelmäßigen Abständen die Eiskompressen auf seinem Gesicht. Von Dankbarkeit für ihre Betreuung war keine Spur. Im Gegenteil, seine Stimmung wurde immer gereizter und schlug allmählich in offene Aggression um. Als sie einmal nicht schnell genug den Morgenkaffee fertig hatte, beschimpfte er sie als Schlampe und alte Hexe und versuchte nach ihr zu treten. Agnes zog sich weinend in das Schlafzimmer zurück, aus dem Hans Michalek seit geraumer Zeit ausgezogen war. »Gott sei Dank«, dachte sie, »wird er in den nächsten Tagen wieder zur Arbeit gehen, dann werden hoffentlich wieder normale Verhältnisse eintreten.«
Als er zum ersten Mal nach seiner Operation wieder sein Büro betrat, holte er als Erstes eine Sektflasche aus seiner Aktentasche und ging zu Frau Wagner, der Sekretärin seines Chefs, die er »bei Bedarf mitbenutzen durfte«, wie er sich häufig ausdrückte. Er goss zwei Wassergläser mit warmem Rotkäppchensekt voll und sagte: »Na, Frau Wagner, was sagen Sie nun?«
»Herr Michalek, ich verstehe nicht, was Sie meinen. Sie haben doch erst im Februar Geburtstag.«
»Schauen Sie mir ins Gesicht, was fällt Ihnen auf?« Er schaute sie eindringlich an, dann griff er überraschend mit einer schnellen Bewegung in den Ausschnitt ihres Sommerkleides und umschloss Frau Wagners üppige linke Brust mit festem Griff.
Frau Wagner schrie empört auf: »Was soll das? Sie Ferkel!« und machte sich von Hans Michalek los. »Sie sind wohl verrückt geworden!« Nachdem sie sich ein wenig beruhigt hatte, sagte sie: »Herr Michalek, ich werde vorerst niemandem etwas über diesen Vorfall erzählen, aber Sie müssen mir versprechen, so etwas nie wieder zu machen. Halten Sie sich bitte zurück!«
Einige Wochen später war das Ehepaar Michalek zu einem Geburtstagsfest bei den Schwenkendicks, den Nachbarn schräg gegenüber, eingeladen. Wie immer wurde es ein feuchtfröhliches Fest, bei dem im Garten gegrillt wurde und Bier und Rotwein in Strömen flossen. Das Bad mit der einzigen Toilette war in der oberen Etage des Hauses, so dass jeder Gast, den die Blase drückte, die Treppe hinaufsteigen musste. Auf dem Höhepunkt des Festes wankte die Gastgeberin, Frau Schwenkendick, eine dickliche und üppig ausgestattete Blondine, die Treppe hoch. Jedermann konnte hören, wie zunächst die Tür des Bades ins Schloss fiel und dann ein Plätschern des Wasserhahns erklang. In diesem Moment stand Hans Michalek auf und ging in die obere Etage.
Nach einiger Zeit hörten die Gäste, die sich der Stechmücken wegen von der Terrasse ins Wohnzimmer zurückgezogen hatten und gerade über die zunehmenden Hauseinbrüche im Wohnviertel debattierten, Frau Schwenkendicks Quieken und Kichern. Es wurde von einigen schrillen Schreien abgelöst: »Lass das, Hans, du gehst zu weit, das ist kein Scherz mehr!« Mit erstarrtem Blick stieg Herr Schwenkendick den Geräuschen folgend die Treppe hinauf. Er war ein kräftiger Typ, hielt sich durch tägliches Joggen auf dem Deich in Form und stemmte mindestens zweimal in der Woche in einem Fitnessstudio Gewichte. Es war ein lautes »Du Schwein, du verlässt sofort mein Haus!« zu hören. Poltern, Schreie, und dann sah man Hans Michalek nur mit der Unterhose bekleidet die Treppe herunterstürzen. Seine Hose flog im hohen Bogen hinterher.
Agnes packte angewidert ihren Mann am Arm und schleifte ihn über die Straße nach Hause. Als sie in ihrem Flur Licht angemacht hatte, sah sie wütend an ihm herab, der nach wie vor in Unterhosen schwer atmend vor ihr stand. Peinlich berührt musste sie registrieren, dass immer noch eine erhebliche Erektion seine lindgrüne Boxershorts ausbeulte. »Du Schwein, wie kannst du mir das antun«, schrie sie wie von Sinnen, »was ist los mit dir? Willst du alles kaputt machen?« In dem Moment merkte sie plötzlich, dass er in Wirklichkeit gar nicht betrunken war. Hans Michalek war noch relativ nüchtern. Er hat diesen Skandal und diese Viecherei bei vollem Bewusstsein veranstaltet. Und wie er sie jetzt anschaute, mit kaltem aggressivem Blick, das war nicht mehr ihr Ehemann, das war ein fremder und böser Mann.
Diese negative Veränderung des Hans Michalek fiel auch an seinem Arbeitsplatz auf. Schon am nächsten Tag wurde er zu seinem Chef gerufen, der im Grunde ausgesprochen sanftmütig war. Zu seinen Haupteigenschaften zählte es, stets einen Kompromiss parat zu haben, wenn am Horizont auch nur der Schimmer eines
Weitere Kostenlose Bücher