Wahn
Agnes geduldig auf ihn wartete.
Agnes war die Besitzerin einer kleinen Boutique in der Fußgängerzone. Sie war eine kleine, schlanke und adrette Erscheinung. Nach einem langen Arbeitstag im Geschäft war sie es mittlerweile gewohnt, alleine mit einem Glas Rotwein vor dem Fernseher in den Sessel zu sinken.
»Auseinandergelebt« hätte sie nur ungerne das Stadium genannt, das sie und Hans nach all den Ehejahren inzwischen erreicht hatten, aber der Stress des Alltags war in ihrer Beziehung nun einmal nicht wegzuleugnen. Objektiv gesehen hatten sie sehr wenig Zeit füreinander.
Seit zweiundzwanzig Jahren waren sie verheiratet. Im Laufe der Jahre hatte sich die Leidenschaft unbemerkt verflüchtigt, wie ein Feuer, das man im Kamin niederbrennen lässt, ohne es für nötig zu erachten, neue Scheite nachzulegen.
Umso überraschter war Agnes, als Hans ihr eines Tages mitteilte, dass er neulich bei einem Empfang im Rathaus einen plastischen Chirurgen aus Berlin kennengelernt hatte. Er hätte einen Termin vereinbart, um sich sein Gesicht liften und die Tränensäcke entfernen zu lassen.
Agnes sah ihn entgeistert an: »Wozu denn das?« Hans war über fünfzig, er hatte für sein Alter eine gute Figur und ein markantes Gesicht mit Falten, die das Leben geschrieben hatte und die ihm ihrer Meinung nach auch zustanden. Zugegeben, er wirkte häufig abgespannt und müde, aber dem ließ sich durch eine gesunde Lebensweise und genügend Schlaf ohne weiteres abhelfen, da musste man nicht bei einem Chirurgen unter das Messer.
»Für mich musst du das nicht machen«, sagte sie.
»Für dich mache ich das auch nicht«, war die Antwort, und Agnes entdeckte in seinen Augen ein ihr bisher unbekanntes Glimmen.
Hans nahm drei Wochen seines Jahresurlaubs, den er normalerweise mit ihr auf der liebevoll ausgebauten Datscha an der Ostsee verbrachte, und fuhr mit einer kleinen Tasche, in die er Toilettenartikel, T-Shirts, Schlafanzug und Unterwäsche gepackt hatte, nach Berlin. Er hatte sich ihr gegenüber in den Tagen davor nicht wie gewöhnlich neutral, sondern offen feindselig verhalten. Vor allem, wenn sie abends damit begann, ihm Vorwürfe zu machen, dass es eine Schande sei, für so einen Unsinn das viele schöne Geld auszugeben, und ihm aufzählte, was sie alles für die dreitausend Euro anschaffen könnten, reagierte er unwirsch und schnitt jede Diskussion ab.
Drei Tage nach seiner Abreise nach Berlin rief er sie zum ersten Mal an. Er sei operiert worden, sein ganzes Gesicht sei verquollen und täte ihm weh. Jeder Tag in der Privatklinik koste ein Vermögen, er müsse dort so schnell wie möglich raus. In seinem Zustand könne er jedoch nicht Auto fahren, und die Bahn könne er auch nicht nehmen, dafür ginge es ihm nicht gut genug. Außerdem müsste er dann das Auto in Berlin lassen.
Er jammerte und winselte und bat sie, ihn in Berlin abzuholen. Widerwillig besorgte sich Agnes eine Aushilfe für ihre Boutique und setzte sich am nächsten Morgen in den Zug, um ihren schönheitskorrigierten Ehemann heimzuholen.
Hans saß bereits mit seiner Tasche unten im Empfangsraum der Privatklinik. Er hielt seine Sporttasche umklammert, weinte und wimmerte, er habe so viel Schmerzen, das ganze Gesicht täte weh und fühle sich an, als hätte man ihm die Gesichtshaut abgezogen. Agnes war nicht nur müde, frustriert und genervt, sie war auch wütend, und sie hatte kein Fünkchen Mitleid mit ihrem Mann: »Je mehr es wehtut, desto besser«, stieß sie hervor, »damit du wenigstens erkennst, wie unsinnig deine Idee war, sich liften zu lassen, für das viele Geld.« Die Schwester gab ihm kurz vor der Abfahrt noch eine Morphiumspritze, die den Effekt hatte, dass er zunächst aufhörte vor sich hin zu wimmern. Wie ein Baby rollte er sich dann auf dem Hintersitz des Passats zusammen, um sich dösend von ihr die zweihundertfünfzig Kilometer nach Hause transportieren zu lassen. Als sie am Abend die Pflaster und Mullbinden von seinem Gesicht entfernt hatte, blickte sie emotionslos auf die Verquellungen und Blutergüsse, die ihn wie einen brutal zusammengeprügelten Preisboxer aussehen ließen. Am meisten wunderte sie sich bei diesem unschönen Anblick über ihre innere Gleichgültigkeit.
Hans Michalek war vier Wochen lang krankgeschrieben. Er wollte sich mit seinem geschwollenen und blau angelaufenen Gesicht nicht in der Öffentlichkeit zeigen. Jammernd ließ er sich Tag und Nacht von Agnes bedienen. Nicht einmal mehr die morgendlichen Brötchen wollte er
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