Wahn
Konflikts aufzutauchen drohte. Ferner weigerte er sich rigoros, klare Entscheidungen zu fällen. Mit ein Grund, warum er schon seit mehr als fünfzehn Jahren als Abgeordneter fest im Sattel saß.
»Herr Michalek«, sagte er sanft, fasste ihn dabei am Arm und zog ihn in seine Richtung. Dabei vermied er es, seinem Gegenüber in die Augen zu sehen: »Wir müssen jetzt ein ernstes Wort miteinander reden. Sie wissen, dass ich all die Jahre mit Ihnen sehr zufrieden gewesen bin, ja, wir waren immer ein gutes Team. Jetzt muss ich jedoch Dinge erfahren, die mich sehr erschüttern. Um es kurz zu machen: Sie werden von einem weiblichen Lehrling aus dem Schreibbüro beschuldigt, sich ihr unsittlich genähert zu haben. Einzelheiten sind diesem Brief zu entnehmen.«
Er dämpfte sorgenvoll seine Stimme und las mit dem feierlichen Ton eines Testamentsvollstreckers aus dem vor ihm liegenden Brief vor: »Herr Michalek hat mich jedes Mal, wenn wir im Büro alleine waren, sexuell belästigt. Er hat wiederholt an meinen Busen gegrapscht und dabei Sätze wie ›Stell dich doch nicht so an, du willst es doch auch‹ zu mir gesagt.«
Der Politiker musterte Hans Michalek über den Rand seiner Lesebrille hinweg und murmelte: »Das ist ein schwerer Vorwurf, mein lieber Michalek, sehr schwer. Die Öffentlichkeit ist da sehr wach geworden, denken Sie an all die Feministinnen und die vielen Gleichstellungsbeauftragten überall. Aber ich will noch einen Satz vorlesen: ›Zweimal hat Herr Michalek mich in eine Ecke des Zimmers gedrängt und mich trotz meiner Gegenwehr zu küssen versucht. Dabei ist es ihm einmal gelungen, seine Zunge in meinen Mund zu stecken. Ich habe es mir lange überlegt, ob ich etwas sagen soll oder nicht. Da ich kurz davor stehe zu heiraten, habe ich alles meinem Verlobten erzählt, und der bestand darauf, dass ich Ihnen diesen Brief schreibe.‹«
Hans Michalek lachte fröhlich auf: »Ich knutsche eben für mein Leben gerne, was ist denn schon dabei, lieber Chef?«
»Ich bin nicht Ihr lieber Chef. Außerdem empört mich die Art, wie Sie mit dem Problem umgehen. Dies sind ernste Anschuldigungen, da können wir nicht einfach drüber hinwegsehen.«
»Da lache ich, um nicht zu sagen, da scheiß ich drauf!«
Bei dem Begriff aus der Fäkaliensprache zuckte der Chef zusammen und verzog gequält seinen Mund. Er war fassungslos. Michalek erschien ihm wie ausgewechselt. Er hatte ihn stets als höflichen und diplomatischen Mitarbeiter gekannt, aber jetzt war er nicht mehr der Alte. Er beschloss, sich möglichst rasch von Michalek zu trennen.
Während diese Gedanken durch den Kopf des Politikers schossen, lachte Michalek diabolisch auf. Seine sonst immer freundlichen Augen blitzten böse, und er sagte in einem verschwörerischen Ton: »Du willst es doch auch, du geiler Bock, gib es doch zu. Dich machen die schwingenden Titten auch an und die geilen Ärsche, du bist nur zu feige, zuzulangen, das ist dein Problem, du alter Hurenbock.«
Ein paar Tage später war in der Samstagsausgabe der Zeitung zu lesen, dass der persönliche Referent des beliebten Abgeordneten mit sofortiger Wirkung entlassen worden sei, ihm gegenüber seien Vorwürfe der sexuellen Nötigung am Arbeitsplatz laut geworden. Bis diese Vorwürfe geklärt wären, würden auch seine Ämter als Vorsitzender des örtlichen Fußballvereins und des Kanusportvereins der Universitätsstadt ruhen.
Etwa zwei Monate danach wurde Hans Michalek in unserer Klinik aufgenommen. Er war in einem Fischrestaurant am nahen Ostseestrand vom Stuhl gerutscht, als er gerade dabei war, herzhaft in ein Matjesbrötchen zu beißen. Nach Angaben seines Freundes, mit dem er sich einen schönen Tag in der Sonne machen wollte, habe er dann angefangen mit den Armen zu zucken, sei blau angelaufen und habe röchelnde Geräusche von sich gegeben. Der Zustand habe circa eine Minute angehalten. Danach sei er noch längere Zeit benommen und schläfrig gewesen.
Als ich bei der Visite das Krankenzimmer betrat, in dem er untergebracht war, schaute er trotzig von einer Zeitschrift auf, in der er gerade gelesen hatte. Der zuständige Stationsarzt berichtete kurz die Anamnese. Ich streckte ihm meine rechte Hand zum Gruß hin und stellte mich vor. »Ich glaube, wir kennen uns, Sie sind doch der persönliche Referent unseres Abgeordneten gewesen.«
Er schlug mit einigem Schwung mit der Zeitung gegen meine Hand, so dass an einen Händedruck gar nicht zu denken war, wieherte laut auf und sagte: »Mit dem
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