Wahn
berichten –, ging ich mit ihr in mein Untersuchungszimmer.
Seit einem halben Jahr, noch vor dem Skandal im Parteibüro, hatte Hans Michalek sich allmählich zu verändern begonnen. Es fing damit an, dass er plötzlich unpünktlich und unzuverlässig wurde. Er kam einfach nicht zu Terminen, die fest verabredet gewesen waren, und er hatte keinerlei Unrechtsbewusstsein mehr. Wenn man ihm vorhielt, mehr als eine Stunde auf ihn gewartet zu haben, lachte er die jeweilige Person aus, sie solle sich nicht so anstellen.
Er kam morgens immer schlechter aus dem Bett, dabei war er doch ein Frühaufsteher. Es war ihm offensichtlich auch egal, ob er pünktlich zur Arbeit kam oder nicht. Immer öfter kam es vor, dass er unrasiert und ohne die Zähne geputzt zu haben zum Frühstückstisch kam und auch nichts dabei fand, mit einer fleckigen Krawatte um den Hals zur Arbeit zu gehen. Wenn Agnes ihn auf sein geändertes Verhalten ansprach, wurde er aggressiv. Diese Aggression hatte sich in den letzten Wochen so stark gesteigert, dass Agnes begann, um ihr Leben zu fürchten. Letzte Woche hatte er aus nichtigem Anlass wie von Sinnen vor Wut mit einer vollen Weinflasche nach ihr geworfen. Sie hatte sich gerade noch wegducken können. Die Flasche zerbarst an der weißen Küchenwand über der Sitzecke, und der Rotwein spritzte nach dem Aufprall durch die Küche und überzog die Bezüge der Sitzecke sowie sämtliche Küchengeräte, Kochbücher, den Herd und den Kühlschrank mit einem Rotfilm. Von dem intensiven Alkoholgeruch, der tagelang wahrnehmbar war, ganz zu schweigen. Agnes hatte sich in diesem Moment fest vorgenommen, Hans so rasch wie möglich zu verlassen. Aber so schnell ging das nicht, sie hatten noch gemeinsame Schulden, die Ausbildung der Kinder musste abgesichert werden, zusätzlich scheute sie davor zurück, diesen unberechenbaren und immer verrückter werdenden Mann, den sie einmal geliebt hatte und mit dem sie viele glückliche Stunden verbracht hatte, seinem Schicksal zu überlassen.
Es sollte aber noch schlimmer kommen. Eines Tages war sie gerade dabei, das Frühstücksgeschirr zusammenzuräumen, nachdem Hans mit viel Getöse das Haus verlassen hatte, um zu seinen »Geschäften« zu gehen, als das Telefon klingelte und ihr der für sie zuständige Sachbearbeiter bei der Sparkasse, der korpulente und stets joviale Herr Jeschke, am anderen Ende der Leitung mitteilte, dass ihre Hausbank sich leider genötigt sehe, sämtliche EC- und Kreditkarten einzuziehen und das Konto zu sperren. »Ihr Gatte, werte Frau Michalek, hat in den letzten vier Wochen ihr gemeinsames Konto um vierzigtausend Euro überzogen. Unter anderem ist die Anzahlung für einen Porsche Carrera abgegangen.« Er fügte mit seiner weichen, beschwichtigenden Stimme noch hinzu: »Ist schon eine feine Sache, so ein Porsche Carrera. Allerdings sollte man ihn sich leisten können.«
Dazu kam die zunehmende sexuelle Enthemmung. Nicht nur, dass Hans ihr bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit an die Brust fasste, auch das Gros seiner Konversation bestand aus zotigen Bemerkungen. Die Szene mit Nachbarin Schwenkendick in deren Bad war nur der Auftakt zu einer ganzen Serie unangenehmer Situationen, bei denen er wahllos Frauen sexuell belästigte. Zum Beispiel rief er einer älteren Nachbarin, die sich mühsam mit vollgepackten Einkaufstaschen die Treppe hoch quälte, statt ihr die Taschen abzunehmen, fröhlich zu: »Wie wäre es mit einer kleinen Nummer, liebe Nachbarin? Für so was ist man nie zu alt!«
Agnes Michalek sah mich hilflos an: »Ich weiß wirklich nicht, wie das ganze weitergehen soll … Ich möchte endlich wissen, was mit meinem Mann los ist?«
Ehe ich die Antwort auf diese verständliche Frage gab, kam mir eine sehr ähnliche Krankengeschichte in den Sinn, die allerdings mittlerweile mehr als 150 Jahre zurücklag. Die Krankengeschichte des Phineas Gage gehört zu den berühmtesten Fallgeschichten der neurologischen Literatur. Sie ist schon häufig publiziert und oft zitiert worden, unter anderem in dem lesenswerten Buch des amerikanischen Neurologen António Damásio: »Descartes’ Irrtum«. An ihr lässt sich exemplarisch die Funktion des Frontalhirns verstehen, jenes Teiles des Gehirns, das die menschlichen Verhaltensweisen steuert und damit ein mehr oder weniger friedliches soziales Zusammenleben ermöglicht.
Im Sommer 1848 lebte Phineas Gage mit seiner Familie in Neuengland. Er war ein vielversprechender junger Mann, stets
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