Wahn
Multiple Sklerose sein, die soll gerade bei jungen Menschen ausbrechen.« Sie schaute ihn eindringlich an. »Habe ich Multiple Sklerose?«
Es folgte eine längere Erklärung des Oberarztes. Quintessenz war, dass es sich bei der Multiplen Sklerose um eine entzündliche Erkrankung des Gehirnes und des Rückenmarks handelt, bei der eine fehlgeleitete Information dazu führt, dass der Organismus seine eigenen Nervenzellen angreift. Diese Form von Krankheit wird »Autoimmunerkrankung« genannt. Bei der Multiplen Sklerose spielt sich die Entzündung nicht nur an einer Stelle des Nervensystems ab, sondern sie ist über viele Orte verteilt. Allerdings darf die Diagnose einer Multiplen Sklerose nur dann gestellt werden, wenn es sich nicht nur um einen einzelnen Erkrankungsschub handelt, sondern wenn mehrere Schübe aufgetreten sind, die Krankheit also mit der Zeit fortschreitet. Bei Elsa waren zwar in den Schichtaufnahmen der Magnetenzephalographie mehrere Entzündungsherde im Gehirn nachweisbar, jedoch hatte sie erst einen einzelnen Krankheitsschub gehabt. Streng genommen kann man dann noch nicht die Diagnose einer Multiplen Sklerose stellen, da auch eine ganz normale Virusinfektion, die folgenlos ausheilen würde, so verlaufen kann.
»Dann habe ich also keine Multiple Sklerose?«, fragte Elsa hoffnungsfroh.
»Das habe ich nicht gesagt«, antwortete der Oberarzt.
»Was haben Sie denn dann gesagt? Ich muss gestehen, dass ich gar nichts verstanden habe, ich bin ziemlich fertig.«
»Ich habe gesagt«, jetzt sprach er ganz langsam, wie zu einem Kind, von dem er ausging, dass es begriffsstutzig war, »ich habe gesagt, dass wir bisher die Diagnose einer Multiplen Sklerose noch nicht stellen können, aber dass es durchaus möglich ist, dass sich bei Ihnen eine Multiple Sklerose entwickelt.«
»Was kann ich denn dagegen tun?«
»Abwarten. Sie können nur abwarten, ob in der Zukunft ein neuer Schub kommt.«
»Das ist ja schrecklich. Wie soll ich das aushalten?«
Elsa ist noch am selben Tag nach Hause entlassen worden. Sie hatte die Empfehlung, sich in einer Woche in Dr. Pichlers Ambulanz zur Besprechung der Befunde vorzustellen. Eine Schwester gab ihr noch die Nummer der MS-Ambulanz, die sie zwecks Terminvereinbarung anrufen sollte. Auf dem Weg von der Klinik zur Bushaltestelle war ihr Inneres wie abgestorben. Mechanisch fand sie den Weg zu ihrer Wohnung. Später saß sie voller Trauer am Fenster ihres Zimmers und schaute auf die Fassade und den Hof des Altstadthotels gegenüber. Nachmittags reisten dort Hotelgäste an. Ein sehr dicker, rotgesichtiger Mann mit grauem Anzug und lila Schlips hatte sich mühsam aus seinem Audi gezwängt und zog seinen kleinen Rollkoffer in Richtung Rezeption – sicherlich ein Handelsvertreter. Kurz darauf fuhr ein Mercedes in die Hoteleinfahrt. Eine dünne grauhaarige Frau in dunklem Hosenanzug stieg aus und schaute zu, wie ihr Mann das Auto in die enge Parklücke auf dem Hotelparkplatz hineinmanövrierte. Bestimmt waren sie von weit her angereist, um die Bachwoche zu besuchen, die am nächsten Tag mit einem großen Eröffnungskonzert beginnen sollte.
Über Elsas Gesicht liefen Tränen. Nie wieder würde sie solche schönen Reisen erleben, bald würde sie im Rollstuhl sitzen und sie würde den anderen nur zur Last fallen. Sie hatte in der Zukunft doch noch so viel vorgehabt. Beruf, tolle Reisen, Asien, Australien. Jetzt war alles vorbei. Und Raphael. Was für eine Ungerechtigkeit! Endlich hatte sie jemanden gefunden, den sie völlig akzeptieren konnte, endlich hatte sie sich richtig verliebt, und dann schlug das Schicksal erbarmungslos zu und zerstörte alles.
Ihr Handy klingelte. Schniefend angelte sie es aus ihrer Handtasche. Oh nein, auch das noch, ihre Mutter. Alles, nur nicht das. Im Moment war sie nicht in der Lage, mit ihr zu reden. Sie würde sowieso nur Vorwürfe hören: »Habe ich mir doch schon immer gedacht, dass es so weit kommen würde, warum bist du nicht in unserer Nähe geblieben?« Sie ließ das Handy zu Ende klingeln und hörte, wie ihre Mutter auf die Mailbox sprach: »Elsa, was ist mit dir? Ruf bitte zurück, wir machen uns Sorgen. Deine Mitbewohnerin hat gesagt, dass du im Krankenhaus bist. Rufe bitte zurück. Vati ist drauf und dran, sich ins Auto zu setzen, und dich zu holen.« Ich werde schon anrufen, aber erst muss ich mich etwas sortieren, dachte Elsa. Stattdessen schaute sie nach ihren SMS. Eine Nachricht war von Raphael: »Es wird alles gut, ich liebe dich.
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