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Wahn

Wahn

Titel: Wahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christof Kessler
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Raphael.« Nichts wird gut, alles ist aus, das muss ich ihm noch klarmachen. Wieso soll er sich mit einem Krüppel belasten?
    Nach einiger Zeit versuchte ihre Mutter sie zum zweiten Mal zu erreichen. Als sie auch diesen Anruf nicht entgegennahm, sprach sie wieder auf die Mailbox: »Kind, wo bist du? Ist alles in Ordnung? Im Krankenhaus sagten sie, dass du entlassen worden bist. Sie wollten mir aber keine weitere Auskunft geben. Wir machen uns große Sorgen, melde dich.«
    Elsa schaltete das Handy aus. Sie blieb auf dem Stuhl am Fenster sitzen und sah zu, wie sich der Abend über die Stadt breitete. In ihrem Zimmer wurde es dunkler, und in den Fenstern der Häuser um sie herum gingen Lichter an. Sie richtete sich auf. Ihre Beine waren ganz steif und fühlten sich wie Stelzen an. Weil sie so lange mit eingezogenen Beinen dagesessen hatte? Oder war es diese Krankheit, die sie nach und nach von innen aushöhlte?
    Sie hatte gegoogelt. Symptome der MS: Spastik – Steifheit der Glieder, Ataxie – Verlust der Bewegungskoordination, Blaseninkontinenz. Der Rollstuhl, das ist ihre Zukunftsperspektive. Sie schwankte auf den Flur hinaus, möglichst langsam, um Sylvia nicht aufzuscheuchen. Auf die sauertöpfische Sylvia hatte sie in diesem Moment überhaupt keine Lust. Am besten, sie trafen heute Abend nicht aufeinander.
    Sie nahm ihr Handy, ging in die Küche und setzte Teewasser auf. Am Küchentisch sitzend simste sie: »Raphael, es ist aus, ich liebe Dich nicht mehr.«
    Während sie den Button »Senden« betätigte, krampfte sich ihr Körper zusammen. Sie musste verzichten. Sie war bereit, die erste wirklich große Liebe ihres Lebens zu opfern. Jemandem, den man so sehr liebte, konnte man nicht zumuten, mit einem Krüppel zusammenzuleben.
    Ihr fiel ein, dass das Wort Krüppel verpönt war. Früher war es gebräuchlich, heute sagte man »behindert« oder »gehandicapt«. Aber egal, wie man es nannte, es war dasselbe. Sie würde im Rollstuhl sitzen, sie würde ihre Kontrolle über ihre Mimik verlieren, die Blase würde aufhören zu funktionieren und der Urin würde unkontrolliert aus ihr herauslaufen, in jeder Stunde, in jeder Minute.
    Selbstverständlich würde sie mit dem Fortschritt der Krankheit auch ihr Studium abbrechen müssen. Was sollte sie mit einem BWL-Studium, wenn sie sich nur noch mühsam mit dem Rollstuhl durch die Stadt bewegen konnte? Sie hatte sich immer als Businessfrau in grauem Flanellkostüm und mit gestylter Frisur gesehen. Ein Glück, dass sie wenigstens den Mut gehabt hatte, mit Raphael Schluss zu machen. Jetzt war sie frei und ungebunden und konnte ihr Schicksal auf sich nehmen, ohne von einem anderen Menschen abhängig zu sein.
    »Elsa, was ist los, was haben sie im Krankenhaus gesagt?«, hörte sie und sah durch einen Tränenschleier ihre Mitbewohnerin Sylvia in der Küchentür stehen. Sie stand auf, ging auf Sylvia zu, umarmte sie und sagte unter Tränen: »Sie haben gesagt, dass ich wahrscheinlich Multiple Sklerose habe.« Dann standen beide im Flur ihrer gemeinsamen Wohnung und weinten. »Ich mache erst einmal Kakao für uns beide«, sagte Sylvia. »Eine Freundin meiner Mutter hat auch MS, schon seit Jahren, man merkt es ihr gar nicht an, heutzutage kann man eine Menge dagegen tun.«
    »Damit tröstest du mich nicht, es ist so fürchterlich«, weinte Elsa. Als sie beide in ihre Zimmer gingen, war Elsa froh, endlich allein zu sein. Während des Gesprächs mit Sylvia war in ihr ein Entschluss gereift. Sie zog sich geräuschlos ihre Jacke über, verließ die Wohnung und ging zu ihrem Auto.
    Nachts klingelte es an der Wohnungstür. Als die verschlafene Sylvia öffnete, sah sie sich einem atemlosen Raphael gegenüber.
    »Wo ist Elsa? Ich muss mit ihr sprechen.«
    »Sie ist in ihrem Zimmer, aber ich glaube, sie will mit niemandem reden heute Abend. Sie ist völlig fertig, seitdem sie mit der Diagnose Multiple Sklerose aus dem Krankenhaus entlassen worden ist.«
    Raphael schaute verblüfft: »Was sagst du da?«
    Er klopfte an der Tür zu Elsas Zimmer. Nachdem er keine Antwort erhalten hatte, betrat er den dunklen Raum.
    Elsa war nicht da, das Zimmer war leer. Er machte das Licht an. Auf dem Schreibtisch lag ein Zettel: »Liebe Sylvia, vielen Dank für alles, ich gehe dorthin, wo ich am glücklichsten war mit ihm. Vielleicht kann ich diesen Moment noch einmal nachempfinden, bitte sage niemandem, dass ich weg bin. Deine Elsa.«
    »Ich weiß, wo sie ist«, sagte Raphael, faltete den Zettel zusammen und

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