Wahn
Universitätsbibliothek anschließen wollte, musste sie bemerken, dass sie ihren Fahrradschlüssel vergessen hatte. Aus Angst, es ungesichert stehen zu lassen, schleppte sie es ins Gebäude bis vor den Seminarraum. Natürlich war sie daraufhin in das Seminar »Globale Geldmärkte« zu spät gekommen und musste sich an dem pingeligen Assistenzprofessor Rothmann vorbei auf einen der letzten freien Plätze in der ersten Reihe des ansonsten überfüllten Seminarraums quetschen. »Typisch«, wird er bestimmt gedacht haben, »wer zu spät kommt, scheint sich für das Seminar ja nun nicht rasend zu interessieren.«
Um das Maß voll zu machen, lauerte ihr hinterher noch der Hausmeister des Altstadthauses, in dem sie mit Sylvia in einer Wohngemeinschaft wohnte, auf und schimpfte etwas von Verpflichtung, das Treppenhaus zu reinigen, laut Plan, der ja am Schwarzen Brett im Eingangsbereich aushinge.
In der Küche machte sie sich erst einmal einen Jasmintee und nahm sich vor, den angestauten Frust in ihrem Fitnesscenter beim Spinning loszuwerden.
So saß sie denn auch kurze Zeit später schwitzend bei voll aufgedrehter rhythmischer Musik in einem Raum mit zehn Mitradlern auf dem stationären Rennrad und raste nach Anweisung des Fitnesstrainers Olaf mit rasender Geschwindigkeit imaginäre Berge hinauf und hinunter. Das war viel besser, als vor der Glotze melancholischen Gedanken nachzuhängen.
Elsa war eine 23jährige Studentin der Betriebswirtschaften. Sie war in Hannover aufgewachsen, und ihr Vater war ein gutsituierter Wirtschaftsanwalt. Ihre Mutter hatte auch Jura studiert, aber, wie es im Westen so üblich war, nie in ihrem Beruf gearbeitet. »Ich musste mich um die Kinder kümmern«, kommentierte sie diesen Umstand bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Elsa wollte es auf jeden Fall später anders machen und von niemandem finanziell abhängig sein.
Sie war eine attraktive Erscheinung. Mit ihrem langen braunen Haar und einem schlanken und durchtrainierten Körper zog sie so manchen bewundernden Männerblick auf sich. Dessen war sie sich voll und ganz bewusst. Aber der Richtige war ihr bislang noch nicht über den Weg gelaufen – sie war nun einmal sehr wählerisch. Oft sagte sie zu ihrer Mitbewohnerin Sylvia: »Ich werde mich nicht verzetteln, dafür habe ich keinen Nerv, eines Tages steht der Traummann vor mir, und dann funkt es.«
Schon ein paar Tage später war es tatsächlich so weit. An der Kasse des Supermarktes stand er vor ihr, ihr Traummann. Er sah gut aus, war groß, muskulös und männlich. Außerdem strahlte er eine Aura von Freundlichkeit und Optimismus aus. Seine tiefblauen Augen musterten sie kurz – zu kurz, fand Elsa. Er hatte ausgiebig Artikel aus dem Regal für chinesische und japanische Spezialitäten in seinen Einkaufswagen geladen. Diverse Soßen, eine große Packung Glasnudeln, fertiges Curry, Erdnussöl und Sojakeimlinge.
»Sieht gut aus. Chinesisches Essen?«, entfuhr es ihr, aber im selben Moment hätte sie sich auf die Zunge beißen können: selbstverständlich chinesisch, oder benutzt man Glasnudeln und Sojasprösslinge für eine italienische Pizza? Jetzt blieb diesem wunderbaren Mann nichts anderes übrig, als sie für eine dumme Gans zu halten. Warum musste sie auch unbedingt so dumm daherquatschen? Es ging sie zudem gar nichts an, was der Typ da eingekauft hatte. An der Kasse des Drogeriemarktes bemerkte doch auch niemand: »Oh, Sie haben Ihre Tage«, wenn sie sich eine Packung Tampons kaufte.
Er schaute sie verwundert an. »Woran haben Sie erkannt, dass ich chinesisch kochen möchte?« Dabei lachte er jungenhaft und fröhlich.
Es folgte die »schönste Zeit ihres Lebens«, wie sie Sylvia bei Gelegenheit mit verklärtem Lächeln erklärte. Der Traumprinz passte. Er hieß Raphael Nitsch, stammte aus Bremen und hatte erst vor einem Monat am Amtsgericht eine Stelle als Referendar angetreten, um später Richter oder Staatsanwalt zu werden. Er sah nicht nur gut aus, er war auch klug und konnte ungemein witzig sein. Vor allen Dingen war er zärtlich und verständnisvoll.
»Ich bin verliebt und sehe die Welt durch eine rosarote Brille, mal sehen, als was er sich noch entpuppen wird«, dachte sie häufig bei sich. Denn eigentlich war sie bisher immer wieder nur enttäuscht worden. Entweder hatte sich der jeweils aktuelle Freund als stinklangweilig entpuppt, oder er war unerträglich pedantisch oder besserwisserisch oder, wie Frank, ihre letzte feste Beziehung, einfach ein egozentrischer
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