Wahn
waren. Nach Eröffnung der Hirnarterie war nur noch ein kleines Areal im Bereich der Hirnrinde schlecht durchblutet, hier würde sich später ein Hirninfarkt entwickeln, zum Glück handelte es sich aber um einen relativ kleinen Bezirk im vorderen Anteil eines versteckt liegenden Hirnteiles, der »Insula«, also Insel, genannt wird.
Die Funktion dieser Hirnregion, der »Insula«, ist weitgehend unbekannt. Man vermutet, dass die Insula bei der emotionalen Bewertung von Gerüchen beteiligt ist, also daran, ob etwas angenehm oder unangenehm riecht. Ferner scheint die Insel bei dem Gefühl der Empathie eine Rolle zu spielen, also der Fähigkeit, die Emotionen und Persönlichkeitsmerkmale eines anderen Menschen richtig zu deuten. Alles Funktionen also, die sehr stark mit dem Gefühlsleben eines Menschen zu tun haben.
Ich war zunächst erleichtert, dass das Ganze so glimpflich ausgegangen war und Hans-Friedrich nicht den Rest seines Lebens mit einer schweren Behinderung fristen musste.
Schon während der ersten Visite kam es zu einer Versöhnung zwischen Hans-Friedrich und mir. Er nahm meine Hand, drückte sie und sagte: »Danke, alter Freund.« Als er dann hinzufügte: »Eines verspreche ich dir, jetzt ist absolut Schluss mit dem Rauchen«, antwortete ich aus voller Überzeugung: »Das kannst du mit unserer Psychologin besprechen, im Übrigen ist das ganz und gar deine eigene Angelegenheit, du kannst das handhaben wie du willst.« Auf gar keinen Fall wollte ich damit fortfahren, ihn zu nerven und besserwisserisch eine Änderung seines Risikoverhaltens zu erzwingen. Insgeheim blieb ich auch dieses Mal trotz seiner guten Vorsätze skeptisch, ob er in der Lage wäre, seine Nikotinsucht in den Griff zu bekommen. Mir war mittlerweile klar geworden, dass der Grund für sein selbstzerstörerisches Verhalten von ihm kaum beeinflussbar in seinem Inneren schlummern musste. Aktuell wurde intensiv die Frage wissenschaftlich untersucht, ob soziale Faktoren, zum Beispiel Erziehung oder Schulbildung, oder ob Vererbung die Hauptrolle bei der Entstehung von Suchtverhalten beim Menschen spielen. Bei Hans-Friedrich war ich mir mittlerweile ziemlich sicher, dass es eine biologische Ursache für seine schwere Sucht geben musste. Wenn jemand ein »Sucht-Gen« in sich trug, oder eine suchterzeugende Hirnstruktur, dann Hans-Friedrich.
Ein weiteres Jahr später saßen wir an einem sonnigen Herbsttag bei einem Glas Tee auf unserer Terrasse. Hans-Friedrich erzählte stolz, dass er seit seinem Schlaganfall keine einzige Zigarette geraucht hatte. »Ich habe ganz einfach dieses Verlangen verloren. Früher, auch nach dem Herzinfarkt, habe ich immer nur an das Rauchen gedacht. Der Geruch von Zigarettenrauch hat mich praktisch verrückt gemacht. Ich muss leider zugeben, dass ich bereits eine Woche nach dem Herzinfarkt wieder heimlich geraucht habe. Aber jetzt ist mir das Rauchen völlig egal.« Er lachte. »Die Sucht ist besiegt. Und auch dem alten Müller habe ich das Rauchen in unserer Kanzlei verboten, der geht jetzt immer auf den Balkon. Seitdem kommt auch eine ganz andere Klientel zu mir, ich kann mich vor Mandanten nicht mehr retten und muss aufpassen, dass es nicht Überhand nimmt.«
Jede Woche werden unzählige wissenschaftliche Artikel über Hirnforschung veröffentlicht. Sie alle zu lesen ist unmöglich. Auf den Gebieten, die mich am meisten interessieren, informiere ich mich regelmäßig durch den wissenschaftlichen Literaturdienst PUBMED online. Da mich durch Hans-Friedrichs Schicksal die Funktion dieses mysteriösen Hirnareals »Insula« interessierte, tippte ich von nun an ab und zu dieses Stichwort in die Suchmaschine ein. Und tatsächlich: Im Jahr 2007 wurde in der angesehenen Zeitschrift »Science« von einem Neurowissenschaftler mit Namen Naqvi folgender Artikel publiziert: »Damage to the insula disrupts addiction to cigarette smoking« (Schädigung der Insula beendet Nikotinsucht). In diesem Artikel wird beschrieben, wie mehrere schwere Raucher nach einer Schädigung der Insula, zum Beispiel durch einen Schlaganfall, schlagartig mit dem Rauchen aufgehört haben.
»Die Natur ist weise«, dachte ich bei mir, »sie hat Hans-Friedrich vor der Selbstzerstörung bewahrt.«
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Es gibt Tage, an denen geht einfach alles schief, dachte Elsa Herdermann, als ihr morgens beim Frühstück der Deckel des Marmeladenglases auf das Vorlesungsskript fiel – natürlich mit der klebrigen Seite nach unten. Als sie ihr Fahrrad vor der
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