Wahn
stürmte aus der Wohnung.
Es war eine helle Nacht. Der Mond stand als runde Scheibe groß und gelblich über dem Horizont. Wie eine Armee standen die Alleebäume rechts und links in Reih und Glied, während sich Raphael mit hoher Geschwindigkeit seinem Ziel näherte. Auf dem Parkplatz der Gaststätte sah er Elsas weißen Golf stehen. Erleichtert stellte er fest, dass er sich nicht geirrt hatte. In der Reihe der schönen Tage waren die mit den Ausflügen zu Rügens Steilküste die schönsten gewesen. Er sah sie am Abhang sitzen. Vorsichtig, um sie nicht zu erschrecken, stieg er über die Absperrung und näherte sich ihr leise.
»Elsa, Elsa, ich bin es, Raphael«, sagte er vorsichtig.
Erstaunt sah sie sich um. Ihr Gesicht war voller Tränen und verquollen und die Wimperntusche hatte dicke, schwarze Straßen auf ihren Wangen hinterlassen.
Er beugte sich zu ihr und umarmte sie: »Was machst du für einen Unsinn? Wir gehören doch zusammen. Ich liebe dich.«
Sie blickte ihn regungslos an. Er hörte das regelmäßige Geräusch der Meeresbrandung.
»Ich bin so verzweifelt, ich wünsche mir nichts mehr, als mich fallen zu lassen und dann nichts mehr zu spüren«, sagte sie.
»Wir fahren erst einmal nach Hause«, erwiderte er mit fester Stimme. »Du wirst sehen, es gibt eine bessere Lösung, als sich den Abhang hinunterzustürzen.«
Er umfasste sie fest und ging mit ihr zu seinem Auto. Elsa schmiegte sich ganz eng an ihn und beruhigte sich innerlich. Vielleicht würde an seiner Seite wirklich alles gut werden. »Wir dürfen nicht die Nerven verlieren«, sagte Raphael. »Als Erstes werden wir uns ganz sachlich über diese Krankheit informieren und dann tun, was zu tun ist.«
Eines Tages wurde während meiner Sprechstunde ein Herr Raphael Nitsch angemeldet. Er sei kein Patient, sondern wollte nur einen Rat einholen.
Herein kam ein gut aussehender junger Mann, der mich mit festem Händedruck begrüßte.
»Ich bin der Lebensgefährte von Frau Elsa Herdermann und möchte mit Ihnen über ihre Krankheit sprechen.«
»Weiß Frau Herdermann, dass Sie hier sind? Ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass ich Ihnen gegenüber nicht auskunftsberechtigt bin. Kommen Sie gemeinsam mit Frau Herdermann wieder und wir können alle Punkte erläutern, die Sie erläutert haben möchten.«
»Ich möchte aber mit Ihnen nicht über Frau Herdermann sprechen, sondern über die Multiple Sklerose. Wie sind die Aussichten? Können wir, falls wir heiraten, Kinder bekommen? Mit welcher Wahrscheinlichkeit wird sie zum Pflegefall werden?«
Er schaute mich bittend an. Obwohl mir der junge Mann sehr sympathisch war, spürte ich Ärger in mir aufsteigen: »Gerade wenn Sie heiraten wollen, kann ich Ihnen nur den Rat geben, dass Sie mit Ihrer Freundin wiederkommen sollten. Oberarzt Pichler oder ich beraten Sie beide gerne.«
Er schaute mich so flehentlich an, dass ich ihm ganz allgemein einen Kurzvortrag über die Multiple Sklerose hielt: Es gibt zwei verschiedene Verlaufsformen, einen chronisch progredienten Verlauf, bei dem die Symptomatik langsam und unmerklich zunimmt. Die Behandlung ist in diesem Fall sehr schwierig. Die zweite und günstigere Verlaufsform ist die schubförmige. Bei diesen Patienten kommt es immer wieder zu Schüben, mit Neuauftreten von neurologischen Symptomen. Diese Symptome können sich zum Teil wieder bessern. Patienten mit solch einer schubförmigen Verlaufsform können wir mit einer immunmodulatorischen Therapie, die das körpereigene Abwehrsystem dämpft, wirksam behandeln. Wenn der Patient auf diese Behandlung anspricht, kommt es häufig zu milden Verläufen, bei denen die Lebensqualität der Patienten erhalten bleiben kann. Zum Thema Schwangerschaft haben wissenschaftliche Untersuchungen ergeben, dass sie den Verlauf einer Multiplen Sklerose weder verbessert noch verschlechtert.
Ich vermied es, bei diesen Erläuterungen auch nur im Entferntesten auf Elsas Krankengeschichte einzugehen. Raphael hörte aufmerksam zu, nickte ab und zu und stand dann unvermittelt auf. Er bedankte sich und sagte beim Hinausgehen: »Ich bin mir sicher, dass wir es schaffen werden, ich liebe Elsa nämlich.«
Im Herbst wurde Elsa erneut in unsere Klinik eingewiesen, weil sie einen weiteren Schub ihrer Erkrankung hatte. Dieses Mal war ihr aufgefallen, dass sie Doppelbilder hatte. Dabei handelt es sich um ein typisches Symptom der MS. Diese Doppelbilder treten auf, wenn sich Entzündungsherde dort bilden, wo die Augenbewegungen im Gehirn
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