Wahn
selbstverliebter Schnösel.
Bei Raphael war alles anders. Keine Minute mit ihm war langweilig. An den Wochenenden unternahmen sie Ausflüge in die nähere Umgebung, sie fuhren mehrmals an die Steilküste von Rügen, um Donnerkeile und Hühnergötter zu suchen. Hand in Hand liefen sie barfuß über den Teil des Strandes, an dem sich die Brandung brach, um mit Getöse in das Meer zurückzurollen. Sie drehten sich um und schauten zu, wie ihre Spuren von der nächsten Welle wieder ausgelöscht wurden. Triumphierend bückte sich Raphael plötzlich und hielt einen dunklen, weiß gesprenkelten Stein vor sein Auge. Er schaute durch ein Loch im Stein auf sie.
»Das ist ein Hühnergott, und er wird uns Glück bringen«, rief er lachend. »Hühnergötter sind seit uralten Zeiten Glücksbringer, ich schenke ihn dir.« Und er öffnete ihre rechte Hand und legte den feuchten und noch etwas sandigen Stein hinein. »Wenn du möchtest, dass dir ein Wunsch erfüllt wird, dann nimmst du ihn einfach in deine Hand, schließt die Augen und wünschst es dir ganz fest. Alles geht wie automatisch in Erfüllung, so einfach ist das.«
Sie schloss die Augen, spannte ihre Finger ganz fest um den Hühnergott und sagte: »Ich wünsche mir, dass wir immer so glücklich bleiben wie in diesem Moment.«
In der folgenden Woche sah sie Raphael seltener, da er an einem Seminar an der juristischen Fakultät teilnehmen musste. Sie nutzte die Zeit, um ihr Fitnesstraining im Studio zu intensivieren. Eines Abends hatte sie Probleme beim Training der Kniestrecker. Bei dieser Übung muss durch die Streckung beider Knie ein Gewicht von 20 kg bewegt werden. Das war normalerweise kein Problem für sie. Aber heute hatte sie einfach keine Power. Sie fühlte sich ungewöhnlich schlapp und müde und brachte an den Maschinen nichts zustande.
Vor allem wollte ihr rechtes Bein nicht richtig mitmachen. Sie merkte, dass sie bei den Übungen das gesamte Gewicht statt mit beiden Beinen ausschließlich mit dem linken Bein bewegte. Wenn sie Pause machte, fing das rechte Bein an zu zittern, so dass sie den Oberschenkel mit kräftigem Griff umfassen musste, um es zu beruhigen.
»Ich werde für heute aufhören, es ist wohl nicht mein Tag«, dachte sie bei sich und ging zum Duschen. Am nächsten Tag knickte sie in der Universitätsbibliothek auf der Treppe zum Lesesaal mit dem rechten Bein ein und musste sich am Geländer festhalten, um den oberen Treppenabsatz zu erreichen. »Das muss etwas mit der Wirbelsäule sein«, dachte sie bei sich, »morgen gehe ich zum Orthopäden.«
»Hier kann ich Ihnen nicht weiterhelfen«, sagte Dr. Mendel, der in der Fußgängerzone unweit von Elsas Wohnung seine Praxis hatte. »An der Wirbelsäule ist nichts Auffälliges, auch nicht am rechten Knie. Sie haben eine Lähmung im Bein, die kommt von den Nerven, ich werde sie zu einem Neurologen überweisen.«
Auf diese Weise lernte ich Elsa ein paar Tage später in meiner Sprechstunde kennen.
Sie wirkte sehr beunruhigt, als sie mir von ihren Beschwerden berichtete. Die Frage nach zusätzlichen Symptomen, wie Schmerzen im Bereich der Wirbelsäule, Sehstörungen, Lähmungserscheinungen im Bereich der Hände oder Empfindungsstörungen verneinte sie. Ich untersuchte Elsa und konnte bestätigen, dass eine Lähmung des rechten Beines bestand. Elsa konnte rechts nicht einbeinig hüpfen und auch nicht, ohne die Hände zur Hilfe zu nehmen, mit dem rechten Bein zuerst einen Stuhl besteigen. Als ich mit dem Reflexhammer ihre Muskeleigenreflexe prüfte, waren diese rechts deutlich lebhafter als links. Eine Steigerung der Muskeleigenreflexe kommt immer dann vor, wenn eine »zentrale« Lähmung vorliegt, also eine Schädigung des Gehirns oder des Rückenmarks.
Wir nahmen Elsa zur weiteren Abklärung in unserer Klinik stationär auf. Es wurde zunächst das Nervenwasser untersucht. Die Analyse ergab Zeichen für eine Entzündung, es wurden sowohl Entzündungszellen als auch Eiweißstoffe – sogenannte Antikörper – nachgewiesen. Ferner wurde bei Elsa eine Magnetresonanztomographie des Gehirns angefertigt. Auf den Aufnahmen waren mehrere erbsengroße runde Herde zu sehen, die über das gesamte Gehirn verteilt waren, Entzündungsherde.
Oberarzt Dr. Pichler war auf die Behandlung entzündlicher Erkrankungen des Nervensystems spezialisiert. Er erklärte ihr etwas umständlich diese Befunde. Elsa unterbrach ihn ungeduldig: »Ich habe gegoogelt, wenn es kein eingeklemmter Nerv ist, dann kann es doch
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