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Wahn

Wahn

Titel: Wahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christof Kessler
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koordiniert werden. Ferner klagte sie über eine Ungeschicklichkeit der rechten Hand.
    »Ich kann noch nicht einmal vernünftig unterschreiben, es kommt ein unleserliches Gekrakel zustande«, berichtete sie dem aufnehmenden Arzt. Der machte sich große Sorgen über Elsas psychischen Zustand, weil sie stark depressiv wirkte. Während der Visite erklärte ich ihr, dass wir jetzt, nach dem zweiten Schub, davon ausgehen mussten, dass eine Multiple Sklerose vorläge und diese jetzt konsequent behandelt werden müsse. Wir begannen eine Behandlung mit Interferon, einem Medikament, welches die Funktion der aggressiven Lymphozyten dämpft, die das eigene Nervengewebe zerstören. Bei dieser Behandlung muss sich der Patient das Medikament dreimal pro Woche in die Bauchdecke spritzen.
    Elsa akzeptierte zunächst diese Behandlung und kam regelmäßig zur Kontrolle in Dr. Pichlers Spezialsprechstunde für MS-Patienten. Wie dieser berichtete, war die Interferon-Behandlung bei ihr durchaus erfolgreich. Sie vertrug das Medikament sehr gut, hatte keine Nebenwirkungen und ihre Symptome verschwanden fast gänzlich. Es blieb nur noch eine minimale Ungeschicklichkeit der rechten Hand übrig. Neue Krankheitszeichen traten unter der Therapie nicht auf. Außerdem waren in den halbjährigen MRT-Kontrollen keine neuen MS-Herde dazugekommen. Im Gegensatz zu diesen offensichtlichen Erfolgen der medizinischen Behandlung ging es Elsa psychisch nicht gut. Sie beklagte, dass Raphael ihr mit seiner Fürsorge auf die Nerven ging. Stets umsorgte er sie, als wäre sie invalide: »Ist die Decke auch warm genug? Sitzt du bequem? Komm, ich hole dir noch ein Kissen.« Am schlimmsten jedoch war ihre Aversion gegen die Spritzen, die sie sich jeden zweiten Tag selber geben musste. Dazu noch Tabletten, um Nebenwirkungen, die sie gar nicht hatte, zu vermeiden. Ihre arme Bauchdecke; die Haut wurde an den beanspruchten Stellen immer härter, und wenn sie ungeschickt gespritzt hatte, bekam sie auch einen weit sichtbaren blauen Fleck an dieser Stelle. Mit einem Bikini konnte sie sich nicht mehr sehen lassen, da hätte sie sich gleich ein Schild um den Hals hängen können: »Achtung, ich bin krank und spritze mir jeden zweiten Tag ein Medikament!«
    Als ich einige Wochen später am späten Nachmittag in meinem Büro saß, um überfällige Akten abzuarbeiten, klingelte das Telefon. »Hier ist Raphael Nitsch, Sie erinnern sich sicher, der Lebensgefährte von Elsa Herdermann. Ich muss unbedingt mit Ihnen sprechen, Elsa hat mich verlassen, sie nimmt das Medikament nicht mehr, das Sie ihr verschrieben haben. Sie lässt sich homöopathisch behandeln. Ich brauche dringend Ihren Rat.« Ich machte Raphael klar, dass ich nicht für Partnerprobleme zuständig war. Außerdem war Elsa ja volljährig und konnte die Therapie wählen, die sie für die beste hielt. »Es ist aber Gefahr im Verzug, ich weiß nicht, bei wem ich sonst Rat einholen kann. Ich muss unbedingt mit Ihnen sprechen.« Ich willigte ein und verabredete für den nächsten Tag im Anschluss an die Sprechstunde einen Termin.
    Raphael saß nun ein zweites Mal vor mir. Dieses Mal wirkte er müde und erschöpft. Er erzählte mir, wie es mit Elsa und ihm weitergegangen ist. Obwohl es Elsa die ganze Zeit über körperlich sehr gut gegangen war, ist ihr Zusammenleben nie wieder so unbeschwert gewesen, wie in der Zeit vor der Erkrankung. Das war zwar aufgrund der Ernsthaftigkeit der Diagnose verständlich, er hatte jedoch gehofft, dass sie es schaffen könnten, gemeinsam ein ganz normales Leben zu führen. Dem war aber nicht so. Elsa war durch die Diagnose »MS« stark belastet. Die Spritzen, die sie sich selbst mehrmals wöchentlich in die Bauchdecke geben musste, erinnerten sie ständig daran, dass sie nicht gesund war. Obwohl sie sehr wohl wusste, dass das Medikament ihre Krankheit unter Kontrolle hielt, lehnte sie es immer mehr ab, so dass sie schon am Tag vorher schlechte Laune hatte. Vor ein paar Wochen hatte Elsa eine Party besucht. Raphael hatte einen beruflichen Termin und konnte nicht mitkommen. Die Zimmer der weiträumigen Wohnung des Gastgebers waren voll mit Gästen, sie erzählten den neuesten Klatsch von der Uni, wer mit wem, welcher Dozent gerade eine persönliche Krise hatte und warum. Elsa stand in der Küche und probierte gerade vom griechischen Salat, als eine Frau hereinkam, um sich ein Glas Rotwein nachzufüllen. Es stellte sich heraus, dass sie ihre Mitbewohnerin Sylvia gut kannte. Sie schien auch

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