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Wahn

Wahn

Titel: Wahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christof Kessler
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die Trauung schlicht und unspektakulär über die Bühne gehen zu lassen, stellte sich doch eine Vorfreude und innere Spannung ein.
    »Weißt du, wie ich mich fühle?«, fragte Gudrun. »Ich fühle mich in meine Kindheit versetzt. Wie einen Tag vor Weihnachten, wenn wir durch das Haus schlichen, um Geschenke aufzustöbern und vor Aufregung gar nicht schlafen konnten.«
    »Aus diesem Grund habe ich diesen wunderbaren Südfranzosen mitgebracht, um dich ruhigzustellen«, entgegnete er und goss vom Rotwein nach.
    »Ich bin gespannt, ob Otto und Rosi morgen pünktlich sein werden«, sagte sie nachdenklich. Eigentlich braucht man heutzutage keine Trauzeugen, aber die beiden hatten sich mit so viel Freude angeboten, als sie erfuhren, dass Gudrun und Michael auf Hiddensee heiraten wollten. Ein schlechtes Gewissen hatte Gudrun trotzdem: »Sie müssen für uns morgen extra mitten in der Hauptsaison ihren Laden schließen.«
    »In finanzielle Not geraten die beiden dadurch sicherlich nicht«, brummte Michael behaglich vor sich hin. »Sie verdienen bestimmt ausgezeichnet mit ihrem Krimskrams.«
    Man konnte bei den beiden Bekleidung, Andenken, Postkarten und Bernsteinschmuck kaufen. Während der Saison wurden Otto und Rosi regelrecht überschwemmt von den täglich mit der Fähre anlandenden Touristen.
    »Die sind zuverlässig, ich wette, sie stehen schon eine halbe Stunde vor dem Termin vor dem Standesamt.«
    Am nächsten Tag ging Michael Bornmeister die Frühstücksbrötchen holen. Seine zukünftige Ehefrau zog währenddessen das beige Kostüm an und betrachtete sich im Spiegel.
    »Jetzt müsste er eigentlich zurück sein«, dachte sie bei sich. »Soweit ist es doch gar nicht bis zum Bäcker. Wird wohl einen Seglerfreund getroffen und sich verquatscht haben.« Als er eine halbe Stunde später immer noch nicht da war, fing sie an, nervös auf die Uhr zu schauen. So kannte sie ihren Michael nicht, er war immer pünktlich und korrekt. Nicht dass sie es eilig hatten, bis zum standesamtlichen Termin war noch viel Zeit, aber ein gemütliches Frühstück war als Bestandteil des Hochzeitsrituals fest eingeplant gewesen. Sie wählte seine Handynummer und hörte den Klingelton gedämpft aus dem Wäschehaufen dringen, unter dem die Jeans lagen, die er gestern angehabt hatte. Er ist also ohne Handy zum Bäcker gegangen.
    Nun ja, gleich würde er ja wiederkommen, aber höflich war das nicht, sie an einem solch wichtigen Tag warten zu lassen, im Gegenteil, und es war gar nicht seine Art. Sie musste lächeln bei dem Gedanken, dass er sich auf einmal vor der Hochzeit gedrückt und sich Hals über Kopf davongemacht haben könnte. Nein, Michael bestimmt nicht. Auf ihn war Verlass. Noch gestern Abend hatte er sie zärtlich umarmt und geflüstert: »Ich danke dir für die schönen Jahre mit dir und freue mich auf unsere zukünftige Zeit.« Jetzt musste er aber längst wieder mit diesen idiotischen Brötchen da sein. Den Gedanken, dass er es sich auch anders überlegt haben könnte, und dass sie ihm schlichtweg nicht gut genug war, nach all den Jahren, abgenutzt und verschlissen, versuchte sie wegzuwischen. Aber was hatte er noch neulich beim Italiener gesagt, als die besonders freundliche Kellnerin so auffällig vor seiner Nase mit dem Hintern gewackelt hatte? »Die würde ich gerne mal mit nach Hause nehmen.« Das hatte er sicherlich nur spaßig gemeint, aber es steckt in solch einer Bemerkung doch immer auch ein Körnchen Wahrheit. Jetzt war es schon beinahe Viertel vor neun, kaum zu glauben, dass er so lange brauchte, um drei Brötchen zu holen. Es muss etwas passiert sein. Er war nun mal nicht mehr der Jüngste, da kann doch immer was passieren, Herzinfarkt oder Schlaganfall, wahrscheinlich lag er gerade jetzt in der Bäckerei auf dem Boden, und die Inselbewohner standen, ihre Brötchentüten in der Hand, hilflos um ihn herum und warteten auf das Eintreffen des Rettungshubschraubers aus Bergen oder aus Stralsund. Man war eben auf einer Insel, das musste man sich klarmachen, mit allen Nachteilen, die eine Insel mit sich brachte, zum Beispiel Transport- und Kommunikationsproblemen.
    Sie wusste in diesem Moment, weniger als zwei Stunden vor ihrem Trauungstermin, nicht, was sie tun sollte. Dann entschloss sie sich zu handeln und schrieb auf einen Zettel: »RUF MICH SOFORT AN, WENN DU WIEDER DA BIST!«, zur Sicherheit auch ihre Handynummer, und legte sein Handy neben den Zettel. Dann zog sie sich ihre Joggingschuhe an und ging auf dem Deich in

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