Wahn
unter Umständen auf sie zukommen kann?«, fragte ich. »Nicht alle Fälle verlaufen glimpflich, es gibt natürlich auch Patienten, die auf die Therapie nicht ansprechen.«
»Das ist mir klar, aber das müssen wir dann durchstehen«, antwortete er entschlossen.
Eigentlich nur um das Gespräch zu beenden, sagte ich leichthin: »Dann setzen Sie sich ins Auto, fahren in den Schwarzwald und holen sie da raus.«
»Meinen Sie wirklich?«, fragte er ungläubig.
Im Hinausgehen sagte ich: »Einen Versuch ist es ja wert! Kommen Sie nach 17 Uhr einmal vorbei. Dann reden wir in Ruhe weiter.«
Er kam nicht. Im Laufe der Woche fragte ich meine Sekretärin: »Wollte Herr Nitsch sich nicht noch einen Termin geben lassen?«
»Nicht dass ich wüsste, auf jeden Fall hat er sich noch nicht gemeldet.«
»Auch gut«, dachte ich. »Dann eben nicht!« und ging zur Tagesordnung über.
Es war mindestens sechs Wochen später. Ich befand mich gemeinsam mit Oberarzt Dr. Pichler auf dem Weg zum Besprechungsraum, als dieser sagte: »Übrigens war gestern Frau Elsa Herdermann wieder bei mir.«
»So?«, fragte ich erstaunt. »Ist sie denn wieder im Lande? Ich bin bisher davon ausgegangen, dass sie sich auf einem Therapiehof im Schwarzwald mit alternativen Methoden behandeln lässt.«
»Ja, das war einmal«, entgegnete Pichler. »Offensichtlich hat sie ihr Freund, der Herr Nitsch, jetzt endlich da herausgeholt. Sie ist in einem fürchterlichen Zustand. Sie hat in der Zwischenzeit mindestens zwei schwere Krankheitsschübe gehabt, die natürlich nicht fachgerecht behandelt worden sind. Auf ihrem Rücken findet man Male einer Behandlung mit Schröpfkugeln. Wie im Mittelalter. Wir nehmen sie morgen zur Cortisonstoßtherapie auf. Ich hoffe, dass sie jetzt am Ball bleibt.«
Als ich einige Tage später auf der Station Visite machte, fand ich Elsa, hübsch wie eh und je, in ihrem Bett liegen. Neben ihr saß Raphael und hielt ihre Hand. Er stand auf und lächelte mich an: »Es hat zwar länger gedauert, als ich dachte, aber wir sind jetzt froh, dass wir hier sind.« Ich begrüßte Elsa. »Wie ist es Ihnen ergangen?« Sie meinte, dass sie viel gelernt habe, mehr wollte sie im Augenblick dazu nicht sagen. Aber sie sei jetzt bereit, sich wieder richtig behandeln zu lassen. Es sei immer schlimmer geworden, zuletzt hatte sie Schwierigkeiten, normal zu gehen. Ich untersuchte sie. Beide Beine waren betroffen, außerdem hatte sich die Ungeschicklichkeit der rechten Hand wieder eingefunden. »Dr. Pichler hat sicher den Therapieplan mit Ihnen besprochen, zusätzlich zu den Cortisoninfusionen ist eine intensive Krankengymnastik notwendig.«
»Ich werde alles brav tun«, entgegnete sie. Im Laufe einer Woche besserte sich der Zustand der Patientin unter der Cortisontherapie schon erheblich. Unsere Psychologin sprach täglich mit Elsa über ihre Schwierigkeiten, die Krankheit adäquat zu verarbeiten.
In den nächsten Monaten verlor ich Elsa aus dem Blick. Einmal sah ich sie im Wartezimmer unserer Klinik sitzen und in einem Buch lesen. Wir begrüßten uns herzlich, und sie versicherte mir, dass es ihr gut gehe. Ungefähr ein Jahr später machte ich mit meiner Frau eine Fahrradtour. Der Weg führte uns durch ein Neubaugebiet. Auf dem verwilderten Areal einer ehemaligen Obstplantage sind binnen kurzer Zeit mehrere Reihenhäuser und schicke Einfamilienhäuser hochgezogen worden. »Schau mal dort«, rief meine Frau mir zu. »Die Findlinge wirken wie ein Schutzwall.« Im Garten eines Reihenendhauses waren mehrere mächtige Findlinge aufgereiht. Tatsächlich verlieh diese Gartengestaltung dem kleinen Häuschen etwas Trutziges und Wehrhaftes. Im Garten stand ein Mann und bearbeitete mit einer Gartenhacke ein frisch angelegtes Beet. »Guten Tag, Herr Nitsch!«, rief ich und bremste mein Fahrrad ab. Raphael schaute hoch. Nach einem kurzen Moment der Verwunderung erkannte er mich: »Das ist ja schön, dass wir uns einmal wiedersehen. Wir müssen unbedingt eine Tasse Kaffee auf unserer Terrasse trinken.«
Ich schaute zweifelnd meine Frau an. Aber Raphael schien ihr sympathisch zu sein, so dass sie nickte. Wir gingen um die Findlinge herum und setzten uns auf die Gartenstühle. Dann kam Elsa, sie trug eine gelbe Bluse und helle Jeans. So glücklich und ausgeglichen hatte ich sie noch nie gesehen. »Wir haben das Reihenhäuschen hier gekauft und sind erst vor ein paar Wochen eingezogen«, sagte sie.
»Wir haben Ihre Findlinge bewundert, sie wirken wie ein Wall, den Sie
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