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Wahnsinn Amerika: Innenansichten einer Weltmacht (German Edition)

Wahnsinn Amerika: Innenansichten einer Weltmacht (German Edition)

Titel: Wahnsinn Amerika: Innenansichten einer Weltmacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Scherer
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Europa traf, aber auch in Amerika selbst, scheint mir selbstgerecht. Was wäre denn passiert, hätte Obama tatsächlich seine Gesundheitsreform ausgesetzt, wie es ihm im Nachhinein so viele geraten haben? Man hätte ihn eben dafür noch viel mehr gescholten, allen voran wir Journalisten: als einen, der, kaum gewählt, sein wichtigstes Projekt verrate, der selbst erkämpfte, historische Mehrheiten verkenne. Als Held leerer Worte. Als Wendehals.
    Zu jedem Vorwurf, der ihm gemacht wird, passt ein zweiter, der erhoben würde, hätte er den ersten gescheut. Als er letztlich die Gesundheitsreform durchdrückte, hieß es, er sei zu wenig auf die Opposition zugegangen, und wir zitierten seine alten Wahlaussagen, wonach er das Land doch habe versöhnen wollen. Als zu Beginn des Schuldenstreits sein Kompromiss mit Boehner scheiterte, warf man ihm wiederum mangelnde Führungskraft vor. Und wann immer er Konflikte zeitweise Verhandlungspartnern überließ, um Lösungen eher zu moderieren, klagte die Presse prompt, der Präsident sei abgetaucht. Bei allem Verständnis für unsere Aufgabe als kritische Chronisten – das ist nicht klug, das ist altklug.
    Die Versöhner-Falle
     
    Welcher Wahlkämpfer, welcher Wahlsieger verspricht das nicht: der Präsident, der Premierminister oder die Kanzlerin aller zu sein. Keinem wurde der Satz jemals so nachgetragen wie Obama. Welcher Vorkämpfer einer Sache geht nicht mit Maximalforderungen an den Verhandlungstisch – sei er Gewerkschaftsführer, Arbeitgeber oder Beauftragter seiner Partei? Keinem wurde von Kritikern derart beharrlich vorgeworfen, er sei gescheitert, weil er nicht alles erreicht hat. Wie seinerzeit Lyndon B. Johnson könnte Obama beklagen: »Selbst wenn ich übers Wasser liefe, stünde später in der Zeitung, der Präsident kann nicht mal schwimmen.«
    Woher kam diese Maßlosigkeit? Einen Teil hat er sicherlich dazu beigetragen, indem er stets hoch zielte: historisches Wirtschaftspaket, historische Gesundheitsreform, weltweite Atomabrüstung, Klimawende, Neuausrichtung der Außenpolitik, Entspannung in Nahost. Aber diese Ziele waren gerechtfertigt oder sind es noch immer. Hätten kleinere Schritte weiter geführt? Wohl kaum.
    Altpräsident Bill Clinton kritisierte zuletzt, die Demokraten hätten versäumt, zu Zeiten ihrer stabilen Kongress-Mehrheiten das Schuldenlimit hochzusetzen und nicht erst, als sie dafür die Republikaner brauchten. Das Weiße Haus antwortete, die Loyalität der Abgeordneten hätte dafür nicht gereicht. Auch deren Erscheinungsbild vor den Midterm-Wahlen bemängelte Clinton. Sie hätten zu wenig die eigenen Erfolge reklamiert und sich stattdessen von der Tea Party in die Defensive drängen lassen. Dass die Republikaner Obama aus dem Weißen Haus verdrängen, glaubt Clinton dennoch nicht, selbst wenn die Arbeitslosigkeit relativ hoch bliebe: »Die Amerikaner rechnen auf eigene Weise«, sagt er. »Wenn sie erkennen, dass die Lage deshalb schlechter ist, weil der Kongress sich weigerte, mit dem Präsidenten zusammenzuarbeiten, dann gewinnt er so oder so.«
    Was man Obama vorhalten kann, ist die Zeit, die er benötigt hat, um zu erkennen, dass nach der Wahl nicht beides ging: die historische Mehrheit zu großen Reformen zu nutzen und zugleich auch noch der Freund einer Opposition zu sein, der nach ihrer Niederlage nicht mehr einfiel, als sich auf den Boykott des neuen Präsidenten einzuschwören. Dass die ihm keinerlei Erfolg durchgehen lassen würde, zeigte sich gerade in der Autokrise. Man stelle sich vor, in Deutschland – das schon wegen des drohenden Opel-Verkaufs die Nerven verlor – stünden der Volkswagen-Konzern und Daimler vor der Pleite. Lenkte sie ein Regierungschef erfolgreich durch eine solche Katastrophenkulisse, das Land läge ihm zu Füßen. Obama sanierte sowohl den wankenden Weltmarktführer General Motors als auch den Autoriesen Chrysler, und dennoch ließ sich halb Amerika fortan erzählen, in Washington wüte ein Sozialist. Und wir Journalisten schrieben mit.
    Manche mutmaßen, dass sich hinter den Anti-Stalinismus-Bannern und Obama-Hitler-Postern nur jene einreihten, die in Wahrheit allein die Hautfarbe des Präsidenten störe. Ich halte das für unbegründet. Den Geschichtstest, einen Schwarzen ins höchste Staatsamt zu wählen, hat Amerika bestanden. Die Angstrezepte aber, die sich bald in den Strategiepapieren der Konservativen fanden, um »negative Emotionen« gegen Obama anzurühren – diese Rezepte wirken erstaunlich

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