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Wahnsinn

Titel: Wahnsinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Ketchum
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wenn er heimkam. Dann hielt sie sich immer von ihm fern. Seine Reizschwelle, die früher scheinbar überhaupt nicht existiert hatte, sank immer weiter und weiter. Er hatte sie nie im Zorn geschlagen, aber das hieß noch lange nicht, dass sie ihn nicht für fähig dazu hielt. Seine Reizbarkeit nahm kolossale Ausmaße an. Wenn er wütend war und sie in Streit gerieten, hatte er so eine Art, ihr auf die Pelle zu rücken, auf sie loszugehen, zurückzuweichen, wieder auf sie loszugehen, vor und zurück und wieder vor, bis er ihr aus nächster Nähe ins Gesicht schrie.
    Manchmal dachte sie daran, ihn zu verlassen.
    Das war eigentlich kein Problem. Sie hatte zwar nicht viel Erspartes, aber sie konnte jederzeit wieder als Krankenschwester arbeiten. Sie würden vielleicht etwas kürzertreten müssen, aber es würde schon gehen.
    Doch dann, kurz vor Weihnachten ’93, starb ihre Mutter. Sie hatte, da sie zu ungeduldig war, um auf den überfälligen Räumdienst zu warten, in der Auffahrt Schnee geschaufelt. Der Herzanfall war schnell, plötzlich und unerwartet gekommen.
    Alle drei fuhren sie nach Wolfeboro.
    Als sie dort ankamen, war Lydia ein Nervenbündel und ihrer Schwester Barbara, die inzwischen in Hanover lebte, ging es auch nicht viel besser. Sie hatten niemals auch nur daran gedacht, dass ihre Mutter mal sterben könnte. Zweiundsechzig war doch kein Alter. Und niemand hätte mit zweiundsechzig rüstiger sein können als Kerry McCloud. Nach dem Tod ihres Vaters hatte ihre Mutter den Hinterhof größtenteils in einen Garten verwandelt, wo sie Gemüse und Beeren anpflanzte, die sie einmachte und verschenkte. Sie sammelte Geld für zwei Wohltätigkeitsorganisationen, die Stadtbücherei und den Ortsverein der Demokratischen Partei. Obwohl sie es nicht nötig hatte, arbeitete sie stundenweise in einem Buchladen, um über die Neuerscheinungen auf dem Laufenden zu sein. Sie ging zu Bridgeabenden und zu einer Frauengruppe für alleinstehende Witwen. Das Einzige, worauf sie verzichtete, waren Verabredungen mit Männern.
    Alle kannten den Grund dafür.
    So wie alle wussten, dass Kerry McCloud jeden Abend ein oder zwei Gläschen trank, bevor sie sich schlafen legte. Und zwar nicht in ihr Ehebett, sondern auf die Couch im Wohnzimmer.
    Lydia und ihre Schwester hatte der Verlust regelrecht überwältigt. Sie ertappte sich dabei, wie sie mit leerem Blick die Wände anstarrte und sich dabei an Gespräche und Ereignisse erinnerte, als würden sie in eben diesem Augenblick vor ihr auf die Wand projiziert, wie auf eine Leinwand, auf der das Leben ihrer Mutter wie ein Film vorbeizog. Ein Lesezeichen in einem nicht zu Ende gelesenen Buch, der Name ihrer Mutter auf den nach wie vor täglich eintreffenden Postwurfsendungen, ein Brathähnchen – das genügte, um ihr erneut den Boden unter den Füßen wegzuziehen, ihr in einem unerwarteten Moment die Tränen in die Augen zu treiben.
    Robert, der zu der Zeit fast sieben war, hatte seine Oma geliebt, und trotz der Spielsachen, Bücher und Computerspiele, die er mitgebracht hatte, hielt er sich ständig in der Nähe der Erwachsenen auf, um ihre Trauer wie ein faszinierendes Schauspiel zu beobachten. Sie war sich nicht sicher, ob das gut für ihn war. Lydia brachte es nicht übers Herz, ihn nach draußen oder in ein anderes Zimmer zu verbannen, während sie die Beerdigung plante oder mit Freunden und Verwandten telefonierte. Da war es leichter, seine Gegenwart einfach hinzunehmen, auch wenn er ständig den Tränen nahe war – vor allem dann, wenn entweder sie oder Barb oder beide zu Heulen anfingen.
    Die eigentliche Überraschung war Arthur.
    Nicht, dass er die ganze Sache in die Hand genommen hätte – womit sie insgeheim eigentlich gerechnet hatte –, nein, die Überraschung bestand vielmehr darin, wie viel Anstand, Takt und Würde er in dieser Situation an den Tag legte. In den meisten Fällen war er derjenige, der abnahm, wenn das Telefon klingelte. Er wimmelte Dutzende gut gemeinter, aber aufdringlicher Anrufe ab, erzählte immer und immer wieder dieselbe Geschichte – wie schnell der Notarzt zur Stelle gewesen war, sie aber nicht mehr hatte wiederbeleben können, und ja, zum Glück ist es schnell gegangen, nein, Herzkrankheiten hatte sie keine und, nein, von der Familie sonst auch niemand.
    Arthur reagierte auf diese und auf andere, weitaus banalere Anrufe – auf diese ganzen nervtötenden Obliegenheiten, die ein Todesfall in der Familie mit sich bringt – mit einer Gelassenheit, einer

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