Wahnsinn
sich zog. Aber Robert heulte einfach weiter.
Doch schließlich tat das Spray seine Wirkung, und er beruhigte sich. Sie führte ihn an der Hand in sein Zimmer und legte ihn mit der linken Seite auf die kühlen, frischen Laken.
»Bleib einfach eine Weile liegen«, sagte sie. »Versuch bloß nicht, dich anzuziehen.«
Dann suchte sie in seinem Wäscheschrank nach einem weiten und bequemen Kleidungsstück, einem Schlafanzug oder so etwas. Aber alles sah viel zu eng aus, also ging sie in ihr eigenes Schlafzimmer und holte einen von Arthurs Pyjamas.
Er sah sie an und lachte, als er sah, was sie mitgebracht hatte.
»Der gehört doch Daddy« , sagte er.
»Darum geht’s ja«, erwiderte sie. »Der ist schön groß.«
»Aber der rutscht mir doch runter.«
»Egal.«
Er lachte wieder, doch dann wurde er plötzlich ganz ernst.
»Daddy sagt, dass man sich Schmerzen nur einbildet.«
»Das stimmt nicht.«
»Doch. Jedenfalls hat er das gesagt.«
Sie dachte darüber nach. Vermutlich hatte Arthur mit ihm über indische Fakire auf Nagelbetten, über Feuerläufer und solches Zeug geredet. Aber Robert sprach in diesem Moment nicht von den eher esoterischen Ausprägungen der neurologischen Funktionen des Körpers. Er brachte da etwas durcheinander und war ohne Frage besorgt, weil er seinem Schmerz Ausdruck verliehen hatte. Er schämte sich, weil er geweint hatte. Das war irgend so ein albernes Machoding. Wenn sie ihm jetzt mit Fakiren und Feuerläufern kam, würde ihn das wahrscheinlich bloß verwirren.
Trotzdem wollte sie diese Sache auf der Stelle klären.
»Daddy hat Unrecht«, sagte sie. »Wenn du dir wehtust, dann tut’s eben weh. Punkt. Und du kannst so laut schreien, wie du willst, und so viel weinen, wie du willst. Du musst nicht versuchen, den Schmerz zu unterdrücken, bloß weil du ein Junge bist. Okay?«
Er nickte. »Okay.«
Doch mit der Zeit bemerkte sie, dass er kaum noch Tränen vergoss, obwohl er weiterhin immer wieder hinfiel oder sich irgendwo stieß.
Er weinte nicht einmal mehr, wenn er einen Alptraum hatte. Und davon schienen ihn einige heimzusuchen.
Aus ihrer und Roberts Sicht war das Schlimmste jedoch, dass er im Alter von fast acht Jahren anfing, nachts wieder ins Bett zu machen.
Er nässte sich nicht nur ein. Vielmehr entleerten sich im Schlaf seine Gedärme.
Nicht jede Nacht, aber doch drei- oder viermal in der Woche.
Das war ihm nicht mehr passiert, seit er aus den Windeln raus war. Jetzt musste er wieder Windeln tragen, was ihm verdammt peinlich war. In einem Alter, in dem alle anderen Kinder bei ihren Freunden übernachten oder andere Kinder über Nacht zu sich nach Hause einladen, musste er auf beides verzichten. Wenn er eingeladen wurde, musste er lügen und sagen, dass seine Mutter zu streng war und ihm das nicht erlauben würde.
Nur enge Freunde wie Cindy kannten die Wahrheit, während sie bei den meisten anderen Müttern auf dieser Standardausrede beharrte. Sollten sie doch von ihr denken, was sie wollten. Sein Geheimnis vertraute sie ihnen jedenfalls nicht an.
Sie erzählte nicht einmal seiner Lehrerin davon, obwohl sie, was einige seiner anderen Probleme anbetraf, eng mit Mrs. Youngjohn zusammenarbeitete. Lydia war nicht entgangen, dass allein die Tatsache, dass ihm so etwas passierte, ihm fürchterlich peinlich war. Wenn die anderen Kinder und Eltern Bescheid wüssten, war die Katastrophe vorprogrammiert.
Dann geschah etwas sehr Sonderbares mit ihm, von dem sie glaubte, dass es damit zu tun hatte.
Beim ersten Mal hielt sie es für leicht pervers. Aber das konnte bei Kindern in diesem Alter schon einmal vorkommen.
Doch als er nicht damit aufhörte, läuteten bei ihr die Alarmglocken.
Sie kam eines Abends in sein Zimmer. Er saß auf dem Bett und spielte mit seinen Plastikfiguren, ließ sie in irgendeinem Superheldenkrieg aufeinanderprallen.
»Du musst sie anziehen«, sagte sie und hielt die Windel hoch. »Schlafenszeit.«
Er kannte die Prozedur mittlerweile. Aber deshalb musste sie ihm noch lange nicht gefallen.
»Nur eine Minute, ja? Nur noch eine Minute«, rief er und ließ seine Superhelden gegeneinanderkrachen.
»Jetzt« , sagte sie.
Er seufzte, verzog das Gesicht und tat so, als wäre er stinksauer, während er sich auszog und ins Bett stieg.
Und dann tat er das, was ihr so überaus seltsam vorkam.
Er kniete splitternackt auf dem Bett und drückte seine magere Brust fest gegen die Knie.
Seine Stirn lag auf der Matratze.
Dann ließ er die Arme hinter sich fallen,
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