Wahnsinn
ernsthaften, aber unsentimentalen Art, die den beiden Schwestern viel von ihrer Last abnahm. Die Tote sollte nicht aufgebahrt werden, diese Vorstellung fanden die Schwestern einfach barbarisch. Barbara war inzwischen geschieden – und Lydia hatte in dem Punkt Recht behalten, dass der Tag ihrer Hochzeit tatsächlich der glücklichste Tag ihrer Ehe gewesen war. Arthur war also bis zur Beerdigung die meiste Zeit über der einzige Mann im Haus. Und er stellte Barb seine Umarmungen, seine Zeit, seine Geduld und seinen Trost ebenso sanftmütig und großzügig zur Verfügung wie Lydia.
In der Nacht vor der Beerdigung hatten Lydia und er zum ersten Mal seit Wochen Sex. Arthur war nie zärtlicher und liebevoller gewesen, nicht einmal vor ihrer Ehe. Und Lydia war überrascht von ihrem unbändigen Verlangen nach ihm. Sie erinnerte sich später daran, dass es ihr einen Augenblick vorgekommen war, als sei er die Erde, der Boden selbst, und sie würde sich in einem tosenden Sturm an ihm festhalten.
Am Tag der Beerdigung stand sie neben fünfunddreißig Onkeln, Tanten, Kusinen und Freunden aus ganz New England am Grab, Robert zur Linken und Barb zur Rechten. Arthur stand hinter ihnen und hatte jeder der Frauen eine Hand auf die Schulter gelegt. Und weil ihre Schwester sonst niemanden hatte, war sie ihm dankbar, dass er sie auf diese Weise mit einschloss.
Beim anschließenden Empfang waren es seine Eltern, die als Letzte gingen. Sie fand, dass seine Mutter Ruth ausgezehrter und zäher aussah als jemals zuvor, während sein Vater Harry sich allmählich in einen Schatten seiner selbst verwandelte. Er fühlte sich offenbar nicht wohl in seinem Anzug, der ihm, nachdem er so viel Gewicht verloren hatte, viel zu groß war, und noch unwohler, weil er an der Beerdigung von jemandem teilnehmen musste, den er kaum gekannt hatte. Seine Frau dagegen war ein rastloses Energiebündel. Sie nahm Lydia und Barb kurzerhand die Hoheit über die Küche ab und schaffte es irgendwie, dass sie sich in dem Haus, in dem sie aufgewachsen waren, fast wie Besucher vorkamen. Lydia wusste ihre Hilfe durchaus zu schätzen, dennoch war sie froh, als die beiden endlich abreisten.
Leider erfuhren sie bald, dass ihre Mutter kurz nach dem Tod ihres Vaters eine zweite Hypothek auf das Haus aufgenommen hatte. Offenbar hatte er ihr doch weniger hinterlassen, als sie immer behauptet hatte. Arthur setzte sich wegen der Tilgung der Hypothek mit einem Vermögensberater in Verbindung, der schätzte, dass Barbara und Lydia wahrscheinlich noch jeweils fünfzehntausend Dollar aus dem Haus herausschlagen konnten. Das war nicht gerade viel, andererseits war Barbara eine alleinstehende, kinderlose Lehrerin, die nicht gerade am Hungertuch nagte. Als sie zwei Tage später nach Plymouth zurückfuhren, hörten sie im Auto eine Radiotalkshow aus Concorde. Es ging um eine Serie von Morden, die in letzter Zeit den Bundesstaat in Unruhe versetzten. Die Opfer waren zum Großteil kleine Mädchen, von denen einige nicht einmal das Teenageralter erreicht hatten. Die zugeschalteten Anrufer beschwerten sich über die Untätigkeit der Polizei und verlangten, dass endlich etwas unternommen wurde. Ein Kriminalpsychologe sprach darüber, was für ein Mensch der Mörder sein könnte, und stellte Spekulationen über seine Beweggründe, seine Persönlichkeit und seine Kindheit an.
Zuerst hörte sie kaum zu. Erst als der zweite Gast der Sendung, ein Lieutenant der Staatspolizei, darauf zu sprechen kam, was Eltern und Kinder wissen mussten, damit sie einem derartigen Verbrechen nicht zum Opfer fielen, wurde sie hellhörig.
»So ein Scheiß«, sagte Arthur.
»Was? Wieso?«
»Die wollen einem weismachen, dass einem nichts passiert, solange man dieses oder jenes tut und einfach ein paar Vorsichtsmaßnahmen beherzigt. Dabei kann einem immer was passieren. Man ist nie sicher. Vor manchen Menschen kann man sich nicht schützen.«
Sie hörten noch einen Moment zu, dann wechselte er den Sender.
Erst viel später begriff sie, was er ihr damit eigentlich hatte sagen wollen.
9
Robert
Herbst 1994
Robert träumte, dass er im Freibad war und der Beton unter seinen Füßen so heiß brannte, dass er, anstatt sich ins Wasser gleiten zu lassen oder den Einstieg zu benutzen, einfach, so schnell er konnte, hineinsprang – was eigentlich verboten war.
Doch aus irgendeinem Grund gab es an diesem Tag keinen Bademeister, der ihn daran hindern konnte.
Er tauchte ein und sah, dass es nicht nur keinen Bademeister
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