Wahnsinn
Sie konnte das Geld gut gebrauchen. Und die Ablenkung auch.
Ihre Patientin hieß Ellie Brest, eine kinderlose Witwe von zweiundsiebzig Jahren, die nicht größer als Robert war – und deren gesundheitliche Probleme ausgereicht hätten, um eine weniger robuste Frau ins Grab zu bringen: Bluthochdruck, ein derart schwacher Kreislauf, dass ihre Beine und Hände den ganzen Tag kribbelten und sie nachts davon wach wurde, außerdem Osteoporose im fortgeschrittenen Stadium. Sie hatte sich bis dato beide Handgelenke, den linken Fuß und einen Unterarmknochen gebrochen. Ungeachtet der Kalziumgaben und Knochentabletten, die Lydia ihr tagtäglich verabreichte, würden diese Brüche nie wieder richtig verheilen. Nicht, so lange sie lebte.
Lydia fand Ellie sehr tapfer.
Sie lebte mit dem Schmerz, als sei er ein alter, ungeliebter Verwandter, den man unmöglich freudig in die Arme schließen konnte, mit dem man aber trotzdem irgendwie auskommen musste.
Auch wenn es so nicht in der Stellenbeschreibung stand, kümmerte sich Lydia jeden Tag mehr um Ellie – sie erledigte alle möglichen Dinge, die die Frau nicht mehr selbst machen und für die sie sich eine Haushaltshilfe nicht leisten konnte. Lydias Aufgabe war es eigentlich, dafür zu sorgen, dass sie ihre Medikamente regelmäßig nahm, die Bettwäsche zu wechseln, ihr auf die Toilette und wieder herunter zu helfen, für sie zu kochen und mit ihr Übungen zu machen, die ihre Blutzirkulation in Gang bringen sollten. Doch bereits am dritten Tag machte sie das Badezimmer sauber, schrubbte den Fußboden und die Fliesen. Am vierten Tag putzte sie die Küche. Im Küchenschrank stieß sie auf Konservendosen, die aussahen, als stammten sie noch aus den Fünfzigern. Eine Schachtel Haferflocken beherbergte eine kleine, aber äußerst lebhafte Ansammlung kleiner fliegender Insekten. Sie beförderte alles in den Abfall.
Ellie freute sich riesig. Es war Jahre her, dass sie selbst so gesund und unternehmungslustig gewesen war, um gründlich sauberzumachen.
Immer wieder versuchte sie, Lydia Geld zuzustecken. Lydia lehnte immer wieder ab. Sie legte sich ganz freiwillig für Ellie ins Zeug. Wie nannten die Juden das? Eine Mizwa. Ein Segen. Obwohl sie wusste, wie unsinnig diese Vorstellung war, glaubte sie irgendwie daran, dass sie, indem sie dieser Frau half, die ihre Hilfe so bitter nötig hatte, das schlechte Karma loswerden könnte, von dem sie und Robert offensichtlich heimgesucht wurden. Als ob sie damit den Schleier aus Unglück und Leid zerreißen konnte, in dem sie beide gefangen waren, und der sie von einer glücklichen – und sicheren – Zukunft fernhielt.
»Das Gericht hält eine mündliche Verhandlung im vorliegenden Fall für ausreichend begründet. Bis dahin ist es dem Kindsvater nicht erlaubt, seinen Sohn unbeaufsichtigt zu sehen. Die Beweisaufnahme wird für … mal sehen …« Richter Burke blätterte in seiner Prozessliste. »… für Freitag, den zweiundzwanzigsten Februar, anberaumt. Das Gericht vertagt sich.«
Plötzlich ging alles haarsträubend schnell.
Andrea Stone war zweimal bei ihr zu Hause gewesen und hatte sowohl mit Bromberg als auch mit Doktor Hessler gesprochen. Heute legte sie dar, zu welchem Ergebnis sie gekommen war: Dass in diesem Fall Anhaltspunkte für ein missbräuchliches Verhalten seitens des Vaters vorlagen.
»Nicht seitens der Mutter?«, wollte der Richter wissen.
»Nein, Euer Ehren. Die Mutter ist unschuldig«, antwortete Miss Stone.
»Dessen sind Sie sich sicher?«
»Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, Euer Ehren.«
»Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit?«
Owen Sansom hatte sie vor dem Ehrenwerten Richter Thomas J. Burke gewarnt. Er saß schon so lange auf seinem Stuhl, dass sich niemand mehr an die Zeit vor ihm erinnern konnte. Er war Angehöriger des Kuratoriums des Plymouth State College, Vorsitzender des Ortsvereins der Republikaner und hatte im akademischen und bürgerlichen Vereinsleben der Gegend überall ein Wörtchen mitzureden. Er war von diesem Fall nicht gerade angetan. Arthur war Geschäftsmann. Und es würde Richter Burke nicht gefallen, sich Zeugenaussagen über einen Geschäftsmann anhören zu müssen, der sein eigenes Kind missbrauchte.
»Können wir dann nicht einen anderen Richter kriegen?«, fragte sie.
»Das wird durch Losverfahren entschieden«, antwortete Sansom.
Doch Miss Stone ließ sich von Burke nicht einschüchtern.
»Ich habe ausführlich mit Robert gesprochen, Euer Ehren«,
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