Wahnsinn
nicht weiter, nicht wahr? Worauf ich hinauswill, ist, dass Sie meiner Meinung nach dem Jungen gegenüber Ihre Pflicht erfüllen. Der Junge ist das Wichtigste. Niemand darf ihm wehtun. Eine glückliche Kindheit, ja Kinder überhaupt, sind das Wichtigste auf der Welt. Ich glaube, ich habe etwas verpasst. Aber ich bin froh, dass es einer so guten Frau wie Ihnen, Lydia Danse, nicht so ergangen ist. Ich kann nichts tun, außer für Sie zu beten. Aber Sie sollten wissen, dass ich das jeden Tag tue.«
Lydia bemerkte die Tränen in den Augen der alten Frau. Beim Versuch, sie zurückzuhalten, zitterte sie vor Anstrengung. Und dann traten auch Lydia Tränen in die Augen. Sie stand auf, ging zu ihr hinüber und nahm sie so liebevoll und so vorsichtig wie möglich in den Arm. Der Körper in ihren Armen, der Kopf an ihrer Wange fühlte sich so zerbrechlich an. Sie roch den guten, sauberen Duft alter Frauen und spürte die warmen, nassen Tränen zwischen ihren Gesichtern. Ich liebe dich, alte Frau, dachte sie, das war mir vorher nicht klar, alles ging so schnell, ich wusste gar nicht, dass es so schnell gehen kann, aber ich liebe dich von ganzem Herzen.
Sieh nur. Sieh nur, was du mir gegeben hast.
20
Besuchsrecht, dritter Teil
Als sie nach der Schule mit Robert in die Auffahrt bog, stand Arthurs Lincoln vor der Tür.
»Geh ins Haus«, sagte sie zu Robert.
Sie ging rüber zum Auto. Arthur hatte es sich auf dem Fahrersitz bequem gemacht. Wenn er es darauf anlegte, nicht aufzufallen, war er dabei nicht sonderlich clever. Nicht mit diesem großen, schwarzen Lincoln.
Er kurbelte das Fenster herunter.
»Was machst du hier, Arthur?«
»Nichts. Warten.«
»Dir ist klar, dass du damit gegen einen Gerichtsbeschluss verstößt?«
»Ich wollte ihn sehen.«
»Wieso? Du hast ihn doch gerade erst gesehen.«
»Das war doch Schwachsinn.«
Es war ein nasskalter, grauer Nachmittag. Sie spürte die aus dem Lincoln wabernde Hitze und hatte nicht die geringste Lust, hier draußen herumzustehen und sich mit ihm zu streiten.
»Jetzt hast du ihn ja gesehen«, sagte sie. »Auf Wiedersehen. Du kannst wieder fahren.«
»Lydia?«
»Was?«
»Seit wann bist du so ein Miststück?«
Er lächelte. Sie fand das nicht besonders lustig.
»Seit mir klargeworden ist, wie du wirklich bist, Arthur.«
Sie wandte sich ab.
»Lydia?«
»Was?«
Er lächelte immer noch. Und hielt dabei seine Magnum aus dem Seitenfenster. So tief, dass nur sie die Waffe sehen konnte.
»Peng«, machte er.
»Fahr zur Hölle, Arthur.«
»Peng.«
»Spiel deine Scheißspielchen woanders.«
Sie hoffte inständig, nicht so verängstigt auszusehen oder anzuhören, wie sie sich fühlte. Niemand wusste, wozu er fähig war. Nach allem, was er getan hatte und so durchgeknallt, wie er war, hätte sie darauf gewettet, dass die Waffe geladen war.
Sie drehte sich um und ging langsam auf die Haustür zu.
Sie zitterte.
»Peng, peng« , hörte sie ihn hinter sich.
Erst als sie im Haus war, durch das Fenster spähte und sah, dass der Lincoln verschwunden war, fiel ihr ein, dass sie noch die Einkäufe im Kofferraum hatte. Sie lief raus, um sie zu holen. Dabei sah sich um wie ein Soldat, der nach Scharfschützen Ausschau hält. Und sie fragte sich, ob sie jemals wieder ein normales Leben führen konnte.
21
Die Verhandlung: erster Tag
Der Gerichtssaal war alt und ebenso finster wie der Himmel hinter den drei hohen Fensterreihen. Bis auf die Anwälte, den Richter, den Justizwachtmeister, den Gerichtsschreiber sowie Lydia und Arthur war niemand im Saal. Alle Fälle, in denen es um Kinder- und Jugendschutz ging, wurden unter Ausschluss der Öffentlichkeit und der Presse verhandelt. Lydia war darüber sehr erleichtert.
Die Verhandlung stand unter schlechten Vorzeichen. Nach den kurzen Eröffnungsplädoyers der Anwälte gab Richter Burke einem Antrag von Edward Wood statt, Zeugen und Beweismittel, die dafür sprachen, dass Arthur sie im November geschlagen hatte, nicht zuzulassen – trotz Owens Einwand, auf diese Weise Arthurs Hang zur Gewalttätigkeit untermauern zu können. Angeblich war dieser Sachverhalt für den vorliegenden Fall irrelevant. Also mussten sie auf die Aussagen Ralph Duggans und der Polizeibeamtin, die Lydia zuerst untersucht hatte, verzichten, genauso wie auf die Fotos und die Krankenakte.
Das war ein herber Rückschlag. Ging es hier denn nicht um Gewalt?
Burke war offensichtlich anderer Meinung.
Als Andrea Stone ins Spiel kam, schien sich das Blatt zu
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