Wahnsinn
zur Flucht nutzen konnte.
Sie hatte keine Ahnung, auf welchem Weg er sie durch den Wald geschleppt hatte, aber das spielte jetzt keine Rolle. Sie war jung, er nicht. Der Mut der Verzweiflung war auf ihrer Seite. Früher oder später würde sie die Straße erreichen oder ein Versteck finden. Auf jeden Fall würde er sie nicht erwischen. Nicht noch einmal.
Nicht Marge Bernhardt.
Es gab so viel, für das es sich lohnte, weiterzuleben.
Sie ignorierte die Schmerzen, die Kälte und das Blut und rannte in den nächtlichen Wald hinein.
30 Besuchsrecht, vierter Teil
Einerseits war es gar nicht so schlimm, wie er es sich vorgestellt hatte.
Andererseits war es umso schlimmer, als ihm klargeworden war, dass es wirklich passiert war und dass es ihm passiert war.
Das Heim war nicht das Gefängnis, das er sich darunter vorgestellt hatte. Es war ein ganz normales Haus, allerdings älter und größer als alle Häuser, die er kannte, und es lag an einer ruhigen, von Bäumen gesäumten Straße irgendwo in den Hügeln außerhalb der Stadt. Es gab weitläufige Rasenflächen und hohe Bäume hinter dem Haus, so dass, vom Maschendrahtzaun mal abgesehen, eigentlich jeder hier hätte wohnen können – nicht nur eine Bande verkorkster Kinder, die darauf wartete, was das Schicksal als Nächstes für sie vorgesehen hatte. Im Innern des Hauses gab es im Untergeschoss einen großen, gemütlichen Aufenthaltsraum mit einem Kamin, den angeblich niemand mehr benutzte, eine Küche und ein Esszimmer mit einem riesengroßen Tisch. Oben waren die vier Schlafräume mit Stockbetten für jeweils sechs Jungen.
Seine Zimmergenossen waren allesamt ungefähr in seinem Alter, außer Willie Irgendwas, der noch ein kleiner Junge war und das Bett unter seinem hatte, und David Fosch, der vielleicht zwei Jahre älter war. Aber das war schon okay.
David schien sich für ziemlich hart zu halten, aber er hatte sonst nichts getan.
Trotzdem fürchtete Robert sich vor der bevorstehenden Nacht.
Seiner ersten Nacht hier.
Was, wenn er wieder seinen Schlafanzug vollmachte?
Das passierte Gott sei Dank nicht jede Nacht, jedenfalls nicht mehr, seit er seinen Dad nicht mehr so oft sah. Trotzdem passierte es noch oft genug. Was, wenn er mitten in der Nacht in die Hose machte, es alle riechen konnten, so dass irgendwer wach wurde und rief: Mann, was ist das denn?
Dann würden alle Bescheid wissen.
Und er fragte sich, ob David Fosch auch dann noch nur so tun würde, als sei er ein harter Kerl.
Mrs. Strawn und Mr. McKenzie sagten, dass alle Jungen jeden Tag bestimmte Hausarbeiten zu erledigen hatten. Er musste an diesem Nachmittag Karotten und Kartoffeln fürs Abendessen schälen. Sie hatten ihn herumgeführt, anschließend hatte er auspacken und sein Zimmer beziehen müssen. Kaum waren seine Mom und Mr. Sansom gefahren, hatten sie ihm das Schälmesser in die Hand gedrückt.
Es machte ihm nichts aus. So hatte er wenigstens was zu tun.
Obwohl er es nicht sehr gut konnte.
Er dachte die ganze Zeit an seine Mom, wie sie beim Abschied geweint hatte, während sie sich doch alle Mühe gab zu lächeln. Mr. Sansom hatte ihren Arm genommen und sie hinausgeführt. Der Gedanke daran brachte wiederum ihn fast zum Weinen, denn warum weinte sie, wenn sie keinen Grund dazu hatte, Angst um ihn zu haben?
Ich hab’s gesagt, dachte er, Ich habe das über meinen Dad gesagt. Passiert deshalb dies hier mit mir?
Er machte sich immer noch Sorgen wegen der bevorstehenden Nacht. Wenn er ins Bett gehen und schlafen oder … sonst was tun würde.
Er fragte sich weiter, was wohl als Nächstes mit ihm geschehen würde – wie lang er überhaupt hierbleiben musste und ob ein Kind oder eine ganze Horde über ihn herfallen würden. Es war nur eine Frage der Zeit.
Nur für ein oder zwei Tage, hatten sie gesagt.
Aber er war nicht dumm. Er wusste, dass in ein oder zwei Tagen alles Mögliche passieren konnte.
Viele Dinge, von denen er nicht wollte, dass sie passierten.
Deshalb war er nicht sehr gut beim Gemüseschälen. Immer wieder grub er tiefe Krater in die Kartoffeln, wenn er versuchte, an die dunklen Stellen zu kommen. Oder er kappte aus Versehen die dünnen Karottenspitzen.
Trotzdem roch das Gemüse gut, sowohl die Karotten als auch die Kartoffeln. Sie rochen nach der Küche daheim.
Wann?, dachte er. Wann holen die mich hier bloß wieder raus?
Durch die Küchentür hörte er ein paar Kinder draußen auf dem Rasen spielen, schreien und lachen. Zumindest schien es hier etwas zu
Weitere Kostenlose Bücher