Wahnsinns Liebe
friedlichen Duft aus Flieder und Kuchen ein. Er ist doch bekannt dafür, niemals die Nerven zu verlieren. Bedächtig nimmt er seinen Palisanderstock vom Tisch, sieht, daß Farbe dran geraten ist, zieht sein Taschentuch heraus und putzt den Fleck gründlich ab.
»Haben Sie die Van-Gogh-Ausstellung gesehen?« fragt in seinem Rücken Gerstl.
»Sicher«, sagt Lefler.
»Und – wie fanden Sie die Bilder?«
»Roh, dilettantisch und gottlos.« Er wendet sich dem Schüler wieder zu, den Stock in der Linken. Gerstl nimmt Leflers Rechte in seine beiden großen Hände. »Ich danke Ihnen. Sie haben diesen Tag gerettet. Wer Feuer in sich und Seele hat, kann sie nicht unter einem Scheffel verstecken, und man will lieber brennen als ersticken.«
»Wie bitte?« Lefler spürt, daß ihm Gerstls neuerliche Milde nicht geheuer ist.
»Das ist leider nicht von mir, das ist von diesem van Gogh. Wurde jedenfalls so zitiert in irgendeinem französischen Artikel.«
|70| Verständnis erhellt Leflers Gesicht wie das eines Arztes, der zur richtigen Diagnose gefunden hat, die alles erklärt.
»Na, das kann ja heiter werden. Gut, daß Ihre Eltern im Gegensatz zu seinen über ausreichend Geld verfügen, um Ihnen einmal eine bessere Irrenanstalt zu finanzieren.«
Gerstl verneigt sich wortlos. Und Lefler geht. Hinaus auf die grüne Gasse und hinüber zur Hohen Warte, wo ihn wieder der Frühlingsfrieden umfängt.
Als Mathilde die Tür aufschließt, weiß sie im selben Moment, daß ein Fremder in der Wohnung ist. Ein Geruch, der nicht von hier stammt, hängt in der dunklen Diele. Sie weiß sofort, zu wem er gehört. Sie redet nie darüber, weil andere das wahrscheinlich befremdlich fänden oder sie für eine Schnüfflerin hielten. Und sie selbst hat sich längst daran gewöhnt, daß ihre Nase ein Gedächtnis besitzt, das genauer ist als das eigentliche. Sie erkennt daran, wie Arnolds Jackett riecht, in welchem Kaffeehaus oder welcher Gastwirtschaft er gesessen hat. Diese Note von feuchten Zeitungen bringt er im Herbst und Winter nur aus dem Café Museum mit, die von Malz und etwas Moder nur aus dem Löwenbräu, den Hauch teurer Parfums im Kaffeedunst nur aus dem Imperial, die Mischung aus Zigarrenqualm, Gulyas und Zwiebel nur aus der Großen Tabakspfeife, das Petroleumaroma mit etwas Kernseife nur aus der Schwarzwaldschule, wo er unterrichtet, das durchaus delikate Fischige im Mokkageruch |71| nur aus dem Central, den bonbonsüßen Likörduft nur aus der Casa Piccola. Und jetzt empfängt sie, ledrig, lavendelduftend und terpentinversetzt, der junge Verrückte. Wie kann das sein? Leidet sie an Wahnvorstellungen?
Sie trägt ihren Korb in die Küche, packt die Milchkanne, Brot, Kartoffeln, Speck und Quargel aus und betrachtet alles aufatmend wie eine Beute. Loos hat sie ausgelöst beim Greißler. Offenbar verdient er doch besser, als behauptet wird. Kann also wohl nicht stimmen, was die Loos-Mitzi der Schönberg-Mitzi erzählt hat: Der Gerichtsvollzieher stehe nach wie vor einmal pro Woche vor der Tür der feinen Wohnung im fünften Stock.
Während sie die Einkäufe an ihren Platz räumt, hört sie aus Schönbergs Studierzimmer Stimmen. Sie hält inne: zwei Stimmen. Mathilde geht in das, was sich Badezimmer nennt, stützt sich am Rand des Waschbeckens auf und schaut in den Spiegel. Ihre Haut ist weiß und ziemlich glatt, wie die Haut einer Neunundzwanzigjährigen zu sein hat. Trotzdem ist darin, wie in einem Gerichtsprotokoll, alles zu lesen, was sie erlebt hat. Sofern es jemand lesen kann und will. »Geistige Überanstrengung«, haben die Zeitungen geschrieben, als Weininger sich vor drei Jahren erschossen hat. »Zuviel gelesen.« Das ist ein Argument, das zur Zeit sehr beliebt ist. Und im allgemeinen gilt das als eine Krankheit, die folgerichtig zu solchen irrigen Handlungen verleite. Aber zuviel wissen, zuviel vom Leben wissen, wozu verleitet das?
Mathilde steht da, verliert sich in ihrem Gesicht und in dessen Vergangenheit.
Nur sie weiß, daß Loos seinen letzten Kredit aufgebraucht |72| hat, um letztes Jahr Arnolds schiefgelaufenes Konzert zu finanzieren, für das er die Bürgschaft übernommen hatte. Sie weiß, wie oft ihr Haushaltsgeld nur durch eine Bettelaktion von Schönbergs Schülern zusammenkommt. Sie weiß, wie es sich anfühlt, dauernd anschreiben lassen zu müssen beim Greißler. Und beim Ausgehen aus allen Schaufenstern und Türen heraus beäugt zu werden. Sie weiß, wie die Demütigung schmerzt, mal wieder nicht mit
Weitere Kostenlose Bücher