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Wahnsinns Liebe

Wahnsinns Liebe

Titel: Wahnsinns Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lea Singer
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|78| Mitte kanariengelb, ist das ja kein Wunder«, sagt er gelassen und zieht den bittersüßen Geruch der Kastanienblüten ein.
    »Hat das … hat das alles mit meiner dunkelgrünen Stimme zu tun?«
    Gerstls Gesicht nähert sich ihrem. Sie biegt den Kopf zurück. »Ich glaube, ich kann jetzt weitergehen. Sie können ja unterwegs weitererzählen.«
    Der Weg in die Liechtensteinstraße ist lang. Nicht lang genug für Mathildes Fragen.
    »Und seit wann wußten Sie, was das ist, woran Sie leiden?«
    »Ich leide nicht. Nicht im geringsten.« Seine Stimme hat Stacheln.
    Mathilde bleibt stehen. »Wie bitte? Es macht Ihnen nichts aus, daß viele Sie für verrückt halten?«
    Gerstl zuckt die Schultern. »Nein, damit habe ich zu leben gelernt. Kommen Sie, Sie wollen doch heim.« Er hakt sie unter. »Ich habe das schon deswegen gelernt, gern gelernt, weil ich von meiner … sagen wir mal: Absonderlichkeit einen riesigen Gewinn habe. Sie können sich nicht vorstellen, wie schön es ist, die Welt wie ein Primitiver zu erleben, für den alle Sinneseindrücke verschmelzen. Ich war ein glückliches Kind, ich hatte ja den ganzen Kosmos in mir drin.«
    »Und wann hörte das auf mit dem Glücklichsein?«
    »Als ich merkte, daß meine Wirklichkeit mit der der anderen unvereinbar war. Und was für mich Sinn ergab, ihnen wahnsinnig erschien.«
    »Und hat Ihre … Ihre Absonderlichkeit einen Namen, medizinisch, meine ich?«
    »Das Ganze nennt sich Synästhesie.« Er redet rasch und heftig weiter. Jedes Wort, jede Zahl, jeder Klang |79| verbinde sich sofort bei ihm mit einer Farbe oder einer Farbkombination. Und jeder Klang besitze außerdem eine bestimmte Form und Beschaffenheit. »Es gibt seidige, pelzige oder rauhe Klänge. Auch jede Menge eklige, schmierige, fettige, klebrige. Es gibt Stimmen, die sind braun und widerlich wie Scheiße, und es gibt wunderbar tannengrüne wie Ihre. Es gibt Musik, die ist anödend, als ginge ich durch einen langen nackten weißgestrichenen Krankenhausflur, und solche, die ist wie ein rascher Lauf durch unendliche holzgetäfelte Raumfluchten … natürlich nur für mich. Jeder Synästhetiker empfindet anders, sagen die Leute, die darüber bereits forschen.«
    Als sie in die Nußdorfer Straße einbiegen, schlägt es Mitternacht. Mathilde zuckt zusammen. Und fragt sich, warum sie sich schuldbewußt fühlt. Gut, Mitzi muß noch wach bleiben, aber Arnold kommt ja sicher erst um zwei von den Mahlers zurück.
    »Was sehen Sie beim Mahler-Hören?« fragt sie unvermittelt.
    Das hänge vom Stück ab, erklärt er. Aber sehr oft sehe er dabei Kaskaden, wild herabstürzende Wasserfälle in nächtlichen Wäldern, manchmal gehe er dabei auch durch feuchte Schluchten, in denen heidnische Götter zu hausen scheinen.
    »Und wie schaut Schönberg für Sie aus?«
    Auch da wechsle es von Stück zu Stück, aber üblicherweise sehe er eine glitzernde Wasseroberfläche mit zahllosen Reflexen. »Sehr schön, wunderschön. Und einmal war es, als ginge am Horizont ein noch nie gesehener Planet auf.«
    An einem düsteren Eckhaus, in dem unten Knöpfe und Kurzwaren verkauft werden, bleibt Gerstl stehen. |80| »Hier oben wohnen meine Eltern, hier habe ich die schwierigsten Jahre meiner Schulzeit verbracht. Und hier habe ich noch immer ein Zimmer. Heute nacht werde ich es nutzen.«
    Mathilde schaut die Fassade hinauf und sieht vor sich eine besorgte Mutter, deren Sohn wirr daherredet und keine Freunde hat. »Ich verstehe schon, daß Ihre Mutter beunruhigt war. Keine Mutter hat gern einen Außenseiter zum Kind.«
    »Und hat eine Frau gern einen Außenseiter zum Mann?« Gerstls Stimme ist auf einmal belegt.
    »Na ja«, sagt sie, »damit habe ich zu leben gelernt.« Sie seufzt und faßt sich an den Bauch. »Solange dieser Außenseiter noch nicht so weit draußen steht, daß er die eigene Frau nicht mehr wahrnimmt.«
    Stumm gehen sie das letzte Stück bis in die Liechtensteinstraße. Als sie mit der rechten Hand den Schlüssel in die Haustür steckt, nimmt er ihre linke, dreht sie um und küßt sie auf die Innenseite.
    Sie sieht ihm nach, wie er davonstürzt, als wäre er auf der Flucht.
    Und weiß auf einmal, daß ihr Leben gefährlich werden wird.

    Er schaut angewidert. Damit auch keiner seine Abscheu übersieht, hat er sich, so weit es geht, zurückgelehnt, als grause es ihm davor, überhaupt nur mit den Ausdünstungen in Berührung zu kommen. Doch sehr weit geht es nicht auf den Holzbänken im Löwenbräu. Und alle, die hier mit ihm

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