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Wahnsinns Liebe

Wahnsinns Liebe

Titel: Wahnsinns Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lea Singer
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einer staubigen Straße und starren eine Fassade an. Sie sehen vor sich, was dahinter geschah.
    Es war ein Schuß ins Herz im Morgengrauen. Nicht sofort tödlich. Erst im Krankenhaus verendete er. Am Tag danach begann seine Karriere, sein Erfolg, sein internationaler Ruhm. Sein umstrittenes Werk wurde ein Bestseller, weltweit.
    Jeder kennt die Geschichte, die hier passiert ist und doch nicht hier. Das Haus, wie es jetzt dasteht, weiß und fleckenlos, existiert nämlich erst seit zwei Jahren. Der alte Schwarzspanierhof, in dem sich das junge Genie ein Jahr zuvor ins Herz geschossen hatte, war kurz danach abgerissen worden. Aber die Inszenierung seines Todes hatte das junge Genie ohnehin selbst verdorben. Zwar hatte er alles perfekt organisiert, hatte sich eigens eingemietet in jenem Haus, in dem sein Idol Beethoven – allerdings natürlichen Todes – gestorben war, um an derselben Stelle zu sterben. Doch dann zerschlugen dumpfe Hilfswillige die kunstvolle Symbolik und schleppten den tödlich Verletzten noch ins Krankenhaus.
    »Anstatt diesen Kulissenzauber zu veranstalten, hätte er besser gründlich vorgehen sollen«, sagt Gerstl. »Offenbar war er doch nicht so schlau wie alle meinten. Sonst hätte er es so gemacht, daß jede Rettung ausgeschlossen gewesen wäre.«
    Mathilde schaudert trotz der Wärme. »Und Sie |76| haben den Weininger persönlich gekannt?« Sie schaut weiter geradeaus auf die Fassade, die Arme verschränkt.
    »Ich war mit ihm auf der Schule. Auf dem Piaristengymnasium«, sagt Gerstl, ebenfalls ohne den Kopf zu wenden. »Er war der angebetete Übermensch für die Lehrer, belesen bis in die Fingernägel. Ich war der entnervende Untermensch für sie, schrecklich bis in die Haarspitzen. Ich flog von der Schule, bevor Weininger seine Matura hatte.«
    Mathilde sieht ihn von der Seite an. »Und warum?«
    »Weil der Direktor fand, ich sei für eine öffentliche Schule nicht geeignet. Und er hatte völlig recht damit. Wollen wir noch bis zum Gymnasium rüberschauen – oder ist das zuviel für Sie?« Es ist bereits zehn vorbei, und ein Spaziergang in die Josefsstadt führt in die entgegengesetzte Richtung zur Schönbergschen Wohnung.
    »Ich bin schwanger, nicht krank«, sagt sie. Und beide setzen sich in Bewegung.
    »Wenn Sie mich porträtieren wollen«, hat Mathilde ihm vorher in der Konzertpause erklärt, »muß ich etwas von Ihnen wissen. Sonst ist das eine einseitige Sache. Da dringen nur Sie in mich ein und …«
    »Sie meinen, so, wie wenn nur einer lüstern ist und der andere eben mitmacht, ohne jede Lust?«
    Da ist sie rot geworden.
    Ohne ein Wort darüber zu verlieren, ohne sich zu berühren, gehen sie nebeneinander her nach Süden. Sie sehen nicht rechts und nicht links, wo in den Schanigärten die Teller klappern und die Seidel mit Bier oder gespritztem Weißem, wo es nach Krautsalat riecht, nach Kren und Debrezinern, wo das Gelächter träger wird und schwerer. Sie gehen immer schneller |77| und bleiben erst stehen, als sie auf dem Piaristenplatz angelangt sind. Das Mondlicht beleuchtet die Kirchtürme wie eine Theaterkulisse.
    Gerstl lehnt sich an die Kirchenmauer, schließt die Lider und hebt das Gesicht, als badete er es in der Sonne, mitten in der Nacht. Ohne die Augen zu öffnen, sagt er: »So stand er immer da in der Pause. Ganz allein. Ein Außenseiter wie ich. Er war siebzehn, ich vierzehn. Und ich stand an der anderen Seite des Schulhofs und wußte, daß wir in irgendeiner Weise verwandt sind. Der Club der Verbannten.«
    Er öffnet die Augen und sieht Mathilde an, als erwartete er Widerspruch. »Kein schlechter Club, was die Mitglieder angeht«, sagt sie. »Mein Mann gehört schließlich auch dazu. Übrigens sollte ich nach Hause. Mitzi will ins Bett.«
    Als sie beim Krankenhaus angelangt sind, wird Mathilde auf einmal langsamer, sie ringt nach Luft. »Ich weiß, welches Tor abends offen ist«, sagt Gerstl. »Und wo die nächste Bank im Park steht.«
    Sie folgt ihm, ohne zu fragen. Erst als sie sich aufatmend hinsetzt, fragt sie: »Woher kennen Sie sich hier aus?«
    Er schaut auf das Gebäude, in dem kaum mehr Lichter brennen. »Meine Mutter hat mich hierher geschleift, als Kind.«
    Er wartet ab. Mathilde schweigt. »Weil sie mich bei aller Liebe genauso für geisteskrank hielt wie meine Lehrer.«
    Mathilde versucht, in seinem Gesicht Ironie zu erkennen. Doch sie sieht keine.
    »Wenn ein Kind erklärt, seine Lieblingsfarbe sei vier, und eins sei blaugrau, und sein Nachname sei in der

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