Wahr
ich rötliche Flecken in meinem Gesicht. Was ist mit mir?
Katariina sieht mich besorgt an, wägt die Möglichkeiten ab. Sie ärgert sich, denn sie will so schnell wie möglich nach Paris, kann mich aber auch nicht zurücklassen.
»Ich kann allein bleiben«, schlage ich vor, bei jeder Silbe schmerzt meine Zunge. Ich muss langsam sprechen, die Worte vorsichtig platzieren. »Du fährst weiter, und ich kuriere das aus, bleibe irgendwo im Hotel.«
Katariina überlegt. »Nein«, sagt sie und schüttelt den Kopf. »Wir bleiben zusammen.«
Ich nicke. »Danke.«
Wir steigen an einer Station aus, deren Namen schwer auszusprechen ist. Die Einheimischen starren uns an. Männer spielen an Klapptischen Domino und rufen uns hinterher. Hier gibt es keine Zeit. Hier gibt es Bauern brot, Schweinebraten und selbstgebackenen Apfelkuchen. Ein Hahn stolziert über die Straße, ein Vogel singt gelangweilt sein Lied. Weiter passiert nichts.
Unsere Unterkunft ist ein Loch. Kakerlaken verschwinden in den Fußbodenritzen, auf dem Flur lärmt ein Betrunkener, dessen Frau mit einem geigespielenden Zigeuner abgehauen ist. Wir befinden uns an der Grenze zwischen zwei Ländern, Paris ist nichts als ein Gerücht, bis zur Revolution sind es von hier noch über hundert Jahre.
Es wird Nacht und wieder Tag. Ich berge meinen Kopf in ein Kissen, das nach Zwiebeln und Nikotin und unerfüllten Wünschen riecht. Ich falle, gleite von der Matratze, zerspringe auf dem Fußboden in tausend Stücke. Katariina bringt mir Joghurt, den ich wieder ausspucke, Kartoffeln, deren Geruch ich nicht ertrage, dann Kohlsuppe, dann weißen Fisch, schließlich Brot, das sie kleinreißt, in Saft tunkt und mir auf die Zunge legt. Das kann ich schlucken. Wasser trinke ich in winzigen Portionen.
Ich sehe den Mann in der Tür stehen. Ich will zu ihm, komme aber nicht hoch. Plötzlich ist er mein Vater und sagt, ich hätte meine Schwester in der Wiege verrecken lassen, sie war gerade drei Monate alt, ich fünf Jahre. Wie eine stumme Doppelgängerin trage ich im Traum die Tote mit mir herum, oder wie eine kribbelnde Wunde. Dann sehe ich meine kleine Schwester quicklebendig in der Ecke sitzen, und auf einmal ist sie Ella. Sie kommt mit Molla auf mich zugelaufen, hebt ihre Arme, doch kriege ich sie nicht zu fassen. Schon ist sie wieder die kleine Schwester. Vor meinen Augen stirbt sie ein zweites Mal, löst sich dann langsam auf, wie zerfließender Zucker. Hinter dem Fenster stürzt der Himmel ein, und ich versuche, die Augen aufzubekommen, doch der Traum will nicht enden. Ella setzt sich neben mich.
»Wo ist Molla?«, frage ich.
»Ich habe sie verloren«, sagt sie.
»Ich werde sie für dich suchen.« Mit ihr kann ich ganz leise sprechen, ohne dass ich Schmerzen habe, sie versteht mich trotzdem.
»Mit wem redest du?«, fragt Katariina.
»Ich weiß es nicht.«
Am vierten Krankheitsmorgen ist mein Hals gänzlich zugeschwollen. Ich bekomme keinen Ton mehr heraus.
Katariina sieht mich mit gerunzelter Stirn an. »Ich hole jetzt einen Arzt.«
Sie gibt dem Arzt so viel Geld, wie eine Fahrkarte nach Paris kostet. Ich stehe fröstelnd im Zimmer, meine Schulterblätter ragen in die Luft. Der Arzt drückt das Stethoskop wie einen Stempel auf meinen Rücken.
»Einatmen«, sagt er, es rasselt. »Und aus«, wieder rasselt es. »Aaa«, sagt er, und ich mühe mich ab, bringe aber keinen Laut hervor.
Ich kann meine Knie nicht durchdrücken und bin auf einmal zehn Zentimeter kleiner.
»Was hat sie?«, fragt Katariina.
Der Arzt zuckt die Schultern. »Diphtherie vielleicht, oder sogar Polio. Das kann manchmal mit Fieber einhergehen. Ist schwer zu sagen.«
»Schwer zu sagen?«, wettert Katariina. »Sind Sie Fachmann oder nicht?«
Der Arzt ist verärgert, will sich nicht von den jungen Damen anherrschen lassen. Ohne ein Wort verlässt er das Zimmer, kehrt aber nach einer halben Stunde zurück. Er hat mir einen medizinischen Saft gemischt, von dem ich alle drei Stunden trinken soll.
Am fünften Morgen schlage ich die Augen auf. Katariina bringt mir Tee und Muffins, die sie von unserer strengen Vermieterin erbettelt hat. Die schroffe Frau will sich in nichts einmischen, duldet aber jede Menge dunkles Treiben in ihren Zimmern. Ich esse einen Muffin, schlürfe Tee.
»Geht es dir besser?«
Ich will Ja sagen, der Laut bleibt in meinem Hals stecken. Ich nicke.
Katariina sitzt auf der Bettkante.
Ich mache Schreibbewegungen, Katariina bringt mir einen Stift. Sie sucht nach Papier,
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