Wahr
Sowjetunion«, kommentiert Paul.
»Nicht eher im Arm der Sowjetunion?«, fragt Thomas.
»Weder noch«, versetzt Katariina. »Wir sind ein Freund der Sowjetunion. Freundschaft. Das ist ein Unterschied.«
»Wie du willst.« Thomas zuckt mit den Schultern. »Und was ist mit den Unruhen, sind die schon in euren Breiten angekommen? Sind eure Studenten mit dabei?«
»Sind sie«, erwidert Katariina.
»Und wie steht’s mit den Waren?«, fragt Paul. »Gibt es in Finnland Kugelschreiber?«
»Du kannst bei uns Tausende Kugelschreiber kaufen. Und auch an Fernsehern, Schallplatten und Apfelsinen herrscht kein Mangel. Alles bestens.«
»Aber trotzdem seid ihr auf Reisen«, sagt Thomas wissend. »Ihr sucht also doch woanders nach etwas, das euch fehlt.«
Katariina stöhnt genervt und beugt sich zu mir. »Was für Idioten. Sie haben von nichts eine Ahnung.«
Kopenhagen. Wir warten darauf, dass etwas beginnt. Die Straßen sind voller Menschen und Düfte. Manche kümmern sich nicht um die Gerüchte, kaufen auf dem Markt Zwiebeln, führen ihren Hund spazieren und tragen neue Küchenstühle in ihre Wohnungen. Ich bin glücklich, glücklich. Wir tauschen Dollar in dänische Kronen und kaufen Wein, Brot und Bier. Wir singen und tanzen.
Aus einer Laune heraus betreten wir eine Bar, in der uns eine sympathische füllige Wirtin Brot und Wurst serviert. Ich bestreiche das süße Roggenbrot dick mit Butter. Nie hat mir etwas so gut geschmeckt. Marc hatte recht, als ich ihn das erste Mal traf. Wozu Angst haben, wenn man doch dem Unbekannten vertrauen kann! Ich zahle, da Marc gerade kein Geld hat. Er sieht zu, wie ich mehrere Scheine in Kronen hervorhole und der Wirtin überreiche.
»Du bist so selbstständig geworden«, lobt Marc. »Kaum wiederzuerkennen. Als würde die Welt dir gehören.«
»Sie gehört mir nicht. Aber ich bin dabei, sie kennenzulernen.«
Zwei Tage verbringen wir in Cafés und Parks und warten auf die Ankunft eines Freundes von Marc. Katariina wird ungeduldig. Sie wäre gern schon auf der Fahrt durch Deutschland, noch lieber in Amsterdam, am liebsten in Paris. Mir dagegen passt alles gut, Kopenhagen, der Park, der Sommer. Ich ziehe meine Schuhe aus, gehe barfuß über den Rasen. Ein weiterer träger, warmer Abend. Die Nachtigall singt. Marcs Freund trifft ein, für einen Moment sind alle zufrieden. Ich tanze im Gras. Du siehst aus wie eine Prinzessin, sagt Katariina. Nur noch schöner.
Als wir in Amsterdam ankommen, ist Hochsommer. Wir sitzen an Kanälen, Küchentischen und vor Kneipen. Leylahs Bruder Piet wohnt in einer schmuddeligen Wohnung, die der seiner Schwester ähnelt. Farbige Wände und überall Schallplatten, ungespültes Geschirr und Matratzen auf dem Fußboden. Leute kommen und gehen, ich beschließe, meine Sachen nicht in dieser Wohnung liegen zu lassen. Ich trage alles mit mir, meine Kleider und das Tagebuch, in das ich zehnmal aujourd’hui und zu jedem Tag einen Eintrag geschrieben habe. Auch das Bild von dem Mann liegt zwischen den Seiten und die meisten Geldscheine. Ein paar kleinere Scheine lege ich schließlich doch unter meine Matratze. Wenn jemand sie braucht, dann soll es so sein. Nachts erforsche ich Marc, er öffnet mich jedes Mal neu, und allmählich vertraue ich darauf, dass die Welt für Menschen gemacht ist, die oui sagen. In Marcs Armen sage ich es oft, im dämmrigen Zimmer, von dessen Wand Catherine Deneuve auf uns herabblickt. Letztes Jahr habe ich einen Film gesehen, in dem sie eine gelangweilte Hausfrau spielt, die in einem Bordell zu arbeiten beginnt. Ob sie erst mit fremden Männern sinnlichen Genuss empfinden konnte? Ich weiß es nicht und kümmere mich nicht darum, denn für eine Weile bin ich nichts als ein oui, ein wilder Strudel.
Katariina hat gehört, dass auf dem Spui-Platz eine Versammlung stattfinden wird. Dennoch ist sie an unserem dritten Tag nirgends zu sehen. Marc und ich heben uns den Spui-Platz für später auf; er sagt, wirklich revolutionär sei es doch, unabhängig von der Außenwelt das Dasein zu feiern. Und so spazieren wir träge umher, verirren uns im Rotlichtviertel. Neugierig schließe ich Bekanntschaft mit einer jungen Frau, die in einem Fenster ihre zarten Brüste präsentiert. Sie kommt aus Jugoslawien. Ihre Mutter hat sie an den Haaren gezogen, wenn sie nicht regelmäßig Ave Maria gesagt hat, und manchmal hat sie sie einfach vorsorglich an den Haaren gezogen. Die Frau liebt und hasst die Blicke der Männer, aber an manchen Tagen können ihr
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