Wahr
findet ein Taschentuch.
Ohne zu zögern schreibe ich: Fahr weiter, wenn du willst, mir geht es besser.
»Nein«, sagt sie, »ich bleibe hier.« Sie scheint sich sicher zu sein.
Ich schreibe: Du solltest weiterreisen!
»Soll ich wirklich?«, fragt sie.
Ich sehe, dass sie gespalten ist, gehen und zugleich bleiben will. Ich schreibe: Ja.
Katariina nickt. »Danke«, sagt sie.
Selbst wenn sie das nie zugeben würde – sie ist erleichtert. Sie will endlich dort sein, wo etwas passiert; es macht sie unruhig, wenn die Welt sich ohne sie dreht.
Mir geht es besser. Ich esse eine große Scheibe Brot und mache einen kurzen Spaziergang. Wie hell es ist. Der Himmel sirrt. Ich denke an mein Tagebuch, die Zeichnung. Wo sind sie? Sie liegen in einem Papierkorb, in einer Stadt, deren Namen niemand weiß. Marc hat das Tagebuch zunächst mitgenommen, ist der seltsam fremden Worte aber bald überdrüssig geworden und hat es weggeworfen. Einen Tag lang liegen meine Sätze im Müll, dann kommt jemand, entdeckt das Buch, schlägt es auf. Eine sonderbare Sprache, die keiner kennt, denkt er. Dann findet der Fremde die Zeichnung, betrachtet sie: Wie glücklich die Frau auf dem Bild doch ist!
Katariina hat ihre Sachen gepackt. Ihr Lächeln bringt die Luft zum Klingen. Im Garten des einzigen Restaurants im Ort bestellen wir Zitronenlimonade. Katariina spricht von all den Dingen, die sie umsetzen will, und auch von denen, die erst eine vage Ahnung sind. Ich nicke zur Antwort. Mehrmals schreibe ich ein großes Ja auf die Serviette, nur einmal ein Nein, als sie fragt, ob ich mich noch krank fühle.
Dann muss sie los. Wir küssen uns erst auf die Wangen, wie es hier üblich ist. Als wir uns umarmen, drücke ich sie fest.
»Du bist nur noch Haut und Knochen«, sagt Katariina und zieht die Stirn kraus. »Du musst nach Kuhmo fahren, sobald du in Finnland bist, und dich von deiner Familie aufpäppeln lassen. Pfannkuchen aus Kuh-Erstmilch, Sahnehering mit Kartoffeln, Karelischer Fleischtopf, Erdbeerkuchen mit reichlich Schlagsahne. Kakao und Zimtschnecken, damit du zu Kräften kommst. Wenn ich im Herbst zurück bin, bist du wieder die Alte, und wir gehen abends ins Kosmos und essen Blini oder Piroggen, so wie früher.«
Ich würde Ja sagen, wenn ich könnte. Aber meine Stimme ist nicht zurückgekehrt und wird nie wieder zurückkehren. Ich lächele.
Dies ist der Moment, in dem die Zukunft erschaffen wird, in dem das Alte abgerissen und das Neue erbaut wird. Katariina geht, und ich wende mich ab. Katariina steigt in den Zug und erreicht Paris, doch die Unruhen sind bereits woanders, so wie Unruhen fast immer woanders sind. Sie langweilt sich, schlendert am Montmartre umher, hält sich an der Sorbonne bereit, um mitzuprotestieren, falls ein Protest aufkommt. Doch es kommt kein Protest auf. Was kommt, sind Touristen, so wie sie selbst. Und Professoren, Mütter, Penner, Tauben, alle die, die immer dann unterwegs sind, wenn niemand protestiert. Katariina isst Croissants zum Frühstück, schließt sich für einen Tag einem Mann namens Fabien an, wird von ihm beklaut, als sie auf die Toilette geht. Sie ärgert sich, denkt aber, dass so etwas zu einer Reise dazugehört. Sie schläft im Park hinter der Notre Dame, isst Baguette ohne Belag, kritzelt ein paar vage Gedanken in ihr Notizbuch. Leylah meldet sich nicht, obwohl sie ein Treffen vereinbart hatten. Aber Katariina trifft Lies, wartet an einer Metrostation auf sie und hält sich eine Zeitung als Regenschirm über den Kopf. Dann fährt sie mit Lies nach Westberlin.
Dort kann Katariina auf Lies’ Sofa schlafen, sie bleibt den ganzen Sommer. Die Wohnungstür steht immer offen. Ständig ist Besuch da, Hans und Anne und viele andere. In der Nähe zur Mauer kommen Katariina neue Gedanken, sie singt neue Lieder, lernt Konditionalsätze, die sie vorher nicht kannte. Mühelos eignet sie sich alles an, denn genau danach hat sie gesucht. Wahrscheinlich hat sie nach Gewissheit gesucht, nach Sätzen, die Alternativen ausschließen. Die Begeisterung, die sie beim Sprechen dieser Sätze spürt, ähnelt der Begeisterung, die sie als Schülerin auf der Kellerbühne empfunden hat. Sobald die Lichter ausgingen und die Vorstellung begann, durchströmte sie eine sonderbare Lust. Ein Gefühl, als könne alles Mögliche passieren und als sei sie zugleich in vollkommener Sicherheit.
In Berlin, in der Nähe zur Mauer, beim Sprechen dieser Sätze und beim Austesten ihrer Fäuste, spürt Katariina dieselbe
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