Wahr
Mischung aus Lust und Sicherheit.
Sie schickt mir sechs Karten, von denen mich zwei noch erreichen, aber ich habe keine Energie zu antworten. Die letzten vier Karten liegen unter dem Briefschlitz im schummrigen Flur in der Pengerkatu. Silberfischchen huschen darüber hinweg, Staub sammelt sich auf den bunten Motiven. Irgendwann finden meine Eltern und Liisa die Kraft, meine Wohnung auszuräumen, und sehen die Karten.
Auf der letzten Karte fragt Katariina: Wieso antwortest du nicht???
Liisa schickt ihr ein Telegramm.
Als Katariina es liest, sitzt sie auf einer Parkbank. Sie fühlt sich seltsam leicht; eine Menge anderer Neuigkeiten sind gellend laut: Belagerung und Panzerwagen in Prag. Doch dann kann sie an nichts anderes mehr denken, auch wenn die Wucht der Trauer sie erst später einholen wird. Sie steht auf, als wäre es ein halbwegs normaler Tag, geht die Straßen entlang, setzt sich in ein Café, raucht vielleicht eine Zigarette. Im Grunde, so denkt sie, wusste sie es schon am Bahnhof, als sie von den Pfannkuchen und Zimtschnecken geredet hat. Wahrscheinlich hat sie deshalb so dahergeplappert. Sie wollte die ungute Ahnung überdecken. Das Ende ist selten still und einsam. Das Ende ist oft laut und alltäglich, so wie jetzt, als ein Junge durch den Straßenstaub rennt und klirrend eine Bierlieferung im Café eintrifft.
Katariina weiß, dass sie abends auf Lies’ Fußboden zusammensacken wird. Sie verspürt bereits eine Ahnung dieser Trauer. Gleichzeitig fallen ihr die Etiketten der Bierflaschen auf. Verblüffend grün, geradezu leuchtend, als hätte man für ihre Herstellung hektarweise regennassen Rasen verwendet.
Aber in diesem Moment, in dem die Zukunft erschaffen wird, in dem das Alte abgerissen und das Neue erbaut wird, als ich mich abwende und sie geht, weiß Kathariina es noch nicht und auch ich nicht. Noch gibt es den kleinen Ort, dessen Name unaussprechlich ist, und den Bahnhof mitten im Ort. Katariina steigt in den Zug, ich winke ihr nach. Dann drehe ich mich um und gehe zurück in das kleine Zimmer. Abends fährt auch mein Zug, ich reise nach Hamburg, von dort an die Ostsee und mit dem Schiff nach Hause. Das Ticket kaufe ich mit meinem letzten Geld, schreibe das Ziel auf einen Zettel. Nach Hause, füge ich hinzu, nachdem ich den Namen der Stadt unterstrichen habe. Auf dem Schiff beginnt es wieder. Ich schwebe. Das Meer erhebt sich gegen mich. Ich weiß nicht, ob ich noch existiere. Ich bin verloren, in die Unsichtbarkeit gespült. Als ich in Helsinki ankomme, ist von mir nichts übrig als ein schwaches Gerücht, eine Geschichte, die jemand irgendwann erzählen wird.
Die Gerüche von Fisch im Treppenhaus, die Geräusche aus den Wohnungen löschen mich aus. Ich schließe die Tür auf, stehe bis zu den Knöcheln in Post. Ich stelle die Tasche ab. Schließe die Vorhänge. Ziehe mich aus. Ich bin uralt, könnte unter den Fußbodenbrettern verschwinden und dort für immer liegen bleiben, von allen vergessen. Ich lasse meinen Kopf sinken.
Am siebten Tag fahre ich mit der Straßenbahn ins Krankenhaus. Ich muss mich an die Fensterscheibe lehnen. Die Baumkronen nicken mir zu, die Stadt wirkt wie eine Kulisse. Haben wir schon August? Es ist die alte Strecke, und ich meine, Ella zwischen den Menschen zu entdecken. Aber vielleicht ist sie es gar nicht. Wie sie wohl inzwischen aussieht? Sie ist größer, bekommt die Züge ihrer Mutter. Hat Grübchen und raupenartige Augenbrauen. Ein paar Sekunden bin ich kurz davor, auszusteigen und sie zu schnappen. Ich würde sie nach Hause bringen, ihr Hefezopf und Milch geben. Dann würden wir aufbrechen, mit dem Schiff oder dem Flugzeug. Zwei Wochen lang würde sie weinen und nach ihren Eltern fragen, in der dritten Woche nicht mehr.
Sie tasten mich ab und geben mir Spritzen. Sie verlegen mich in ein Einzelzimmer, als sie erfahren, dass ich gereist bin; möglicherweise habe ich eine seltene Krankheit. Ich muss den Mund öffnen und A sagen, die kleine Lampe beleuchtet meine Mundhöhle.
»Nichts Ungewöhnliches«, meint der Arzt. »Eine normale Entzündung. Wahrscheinlich ist sie tief in den Rachen gewandert.«
Sie holen einen Spezialisten. Auch er trägt einen Bart, er heißt Nylander. »Es sind die Stimmbänder«, sagt Nylander, dessen Bart freundlicher aussieht als die anderen Bärte. »Nicht der Rachen, sondern die Stimmbänder.«
Der andere Arzt nickt.
Sie machen weitere Tests, mein Arm ist zerstochen wie eine Handarbeit in Kreuzstich. Mein Gewicht ist
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