Wahr
eines Träumers, die Gitarre, ein buntes Batikhemd, eine Fellweste, die vielleicht vor kurzem noch ein Schaf auf der Weide war. Er lächelt. Auch sein Lächeln hatte ich vergessen. Meine Zweifel, wenn sie denn bestanden, schmelzen dahin.
»Evà«, sagt er.
Ja, denke ich. Wenn es so kommen soll, dann lasse ich es zu.
Später kocht Leylah aus Mais und einem feinen Korn, das ich nicht kenne, eine Art Risotto, würzt es mit Zimt und Pfeffer und noch anderen Gewürzen, die auf meiner Zunge prickeln. Wir essen auf dem Fußboden. Der Wein macht mich betrunken, die Kissen schweben durchs Zimmer, und Mmkembas Augen strahlen wie Perlen. Jemand stimmt ein Lied an. Ich verstehe die Worte nicht, singe aber trotzdem mit und will an keinem anderen Ort der Welt sein. Als Leylah eine afrikanische Platte auflegt, beginnt Katariina mit ihren Lippen Mmkembas Nacken zu erkunden. Irgendwann stehen sie auf und verschwinden in einem anderen Zimmer. Marc setzt sich neben mich und lächelt. Er spricht von Bewusstseinserweiterung. Ich versuche zuzuhören, befinde mich aber plötzlich auf der Wiese meiner Kindheit, wo ich mit Liisa in der Mittsommernacht sieben verschiedene Blumen pflücke, um sie dem Brauch gemäß unter mein Kopfkissen zu legen. Auf einem Grashalm glänzt ein dicker Tautropfen, hinter dem Tannenwald funkelt die Sonne. Ja, dort bin ich. Im Grunde bin ich nie woanders als auf dieser Wiese gewesen. Es ist Mittsommernacht, und Liisa und ich versuchen zu erraten, von welchen Jungs wir träumen werden, ehe wir unsere Lippen versiegeln. Beim Blumenpflücken muss man schweigen, sonst wird man nachts nicht vom künftigen Bräutigam träumen. Diese Wiese. Der Tautropfen. Der Himmel, unter dem wir gehen. Wir halten einander fest an den Händen. Marc drängt mich sanft, die Knöpfe meiner Jeans zu öffnen und mein T-Shirt auszuziehen. Ich weiß noch gut, wie es mit ihm ist. Seine Brustwarzen, wie Stiefmütterchen! Ich will mich hineinwerfen, aber er ist durch halb Europa gereist, ohne sich zu duschen, und als Erstes muss die Fellweste weg.
»Ich würde dich gern waschen.«
»Kein Problem, gern«, erwidert er. »Zuletzt habe ich mich in Berlin gewaschen.«
Ich frage nicht, wann er in Berlin war, führe ihn schweigend Richtung Badezimmer. Leylah, Agneta und Maj-Lis bleiben im Schneidersitz auf dem Wohnzimmerboden sitzen, rauchen und debattieren. Katariina und Mmkemba sind spurlos verschwunden.
Ich gieße Kiefernöl in die Badewanne. Marc steigt andächtig ins Wasser, als würde er sich von Sünden reinwaschen. Er zeigt mir zwei frische Narben, Hundebisse von den Unruhen im Mai. Ich schrubbe seinen Rücken mit einem Schwamm.
»Du könntest glatt Kinder haben. Du hast so eine Art. Wäschst mich wie eine Mutter.«
»Ich bin keine Mutter.«
Unter dem Staub und Schmutz kommt ein Junge zum Vorschein. Ich trockne Marc ab. Als er sich mir nähert, sieht er aus, als wäre er soeben erst erfunden worden. Wieder schaue ich die zwei Blüten auf seiner Brust an, segele auf ihn zu und wieder von ihm fort. Vielleicht beginnt die Liebe mit diesem süßlichen Gefühl. Mit dem Wissen des Unterleibs, das sich bis in die Fingerspitzen ausbreitet und in die Zehen, bis auf meine Lippen, die über seine Worte lächeln.
»Je t’aime«, sagt er.
»Halt, wir haben uns ein Jahr nicht gesehen!«
»Aber du bist so schön.«
Zwei Tage später steigen wir in den Zug. Noch bin ich da, noch hat das Verschwinden nicht eingesetzt. Die Landschaft wandelt sich, wird weiter, die Felder großflächiger. Manchmal sieht es noch aus wie im provinziellen Nordfinnland, doch langsam nähern wir uns Europa. Mir fällt Anita ein, die in der Grundschule neben mir saß. Meine Mutter hat erzählt, dass sie nach Schweden gezogen ist und dort mit einem Mann in einem Urwald aus Hochhäusern wohnt, zwei Söhne großzieht und in einer Fabrik arbeitet. Anitas Zöpfe waren die dicksten in unserer Klasse. Im Sommer hatte sie Milchschorf in den Armbeugen, im Winter roch sie nach feuchter Wolle. Und jetzt lebt Anita hier. Ihre Söhne haben die gleichen kräftigen Haare wie sie. Sie benutzt Wörter, die ich nicht kenne, und isst sauren Hering, aber ihre Füße können sich noch an die Nadeln auf unseren Waldwegen erinnern.
In Göteborg nehmen wir das Schiff. Im Hafen schließen sich uns Thomas und Paul an, geben eine Runde aus. Thomas starrt Katariina auf den Busen, Katariina starrt zurück, als würde sie ihn jeden Moment erdolchen.
»Finnland?«, fragt Thomas.
»Im Schoß der
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