Wahr
innerhalb einer Woche noch weiter gesunken. Sie notieren meine Körpergröße, der Blutdruck ist niedrig, mein He rzschlag flattert wie der einer Schattenfrau. Einer Schattenfrau aus einer Traumwelt. Aber die Ärzte kennen die Schattenfrau nicht.
»Hier ist so eine seltsame Resonanz«, sagt Nylander. »Vielleicht ist das die Ursache für Ihre Symptome.«
Ich werde in ein weißes Zimmer verlegt, sie informieren meine Eltern. Sie kommen, zusammen mit Liisa. Ich nehme automatisch an, dass ihr Besuch ein Verhör ist, bin durcheinander von den Medikamenten und meiner Sehnsucht. Ich antworte mit den Augen, zweimal Blinzeln heißt Ja. Ja zu sagen ist immer klug, besser man gibt alles zu.
Ja, sagen meine Augen. Ja und Ja.
Es ist gut, nichts als ein Ja zu sein, wenn alles andere versagt hat.
Meine Mutter spricht mit dem Arzt: »Ihnen muss doch etwas einfallen! Früher war sie ein kräftiges Mädchen, stand von morgens bis abends im Stall.«
»Das ist nicht von Bedeutung«, erwidert der Arzt. »Viel hängt davon ab, wie sie in den letzten Jahren gelebt hat.«
Meine Mutter sieht mich an. Sie weiß nicht, wie ich in den letzten Jahren gelebt habe. Aber sie gibt nicht auf.
»Sobald es ihr ein bisschen besser geht, holen wir sie nach Hause. Die frische Luft wird ihr guttun. Das Seewasser, Aufgüsse in der Ufersauna, Milch von gekalbten Kühen.«
»Wie Sie wollen.«
Die Tage schleichen, manchmal rasen sie auch vor dem Fenster dahin. Die Linde wirft Schatten an die Wand, am Licht erkenne ich, dass der Sommer seinen Höhepunkt bald überschritten hat.
Ich schaffe es bis ins Aufenthaltszimmer. In der Ecke sehe ich in Schwarzweiß Panzer flimmern. Vor den Fenstern wabern Gerüchte, die Vorhänge sind geblümt und im Fernsehen findet eine Belagerung statt. Ein Mensch liegt auf der Straße, die Leute laufen über ihn hinweg. Es sieht aus, als hätte er nur kurz innegehalten, um den Himmel anzuschauen, und wäre dabei eingeschlafen, einfach verstummt, aus einer unbekannten Laune heraus. Als hätte er für einen Moment etwas anderes sein wollen als Haut und Fleisch und Blutkörperchen und Pläne und Ängste. Als wollte er ein stilles Zentrum mitten im Tumult formen.
In diesem Moment geht es mir zum ersten Mal durch den Kopf.
»Verrückt ist sie geworden«, sagt ein alter Mann. Anstelle von Zähnen stehen schwarze Stummel in seinem Mund. Er lächelt, als würde er über eine Taube oder etwas anderes Belangloses sprechen. »Vollkommen verrückt ist sie geworden, die Welt.«
Ich nicke. »Stimmt«, würde ich sagen, wenn ich bei Stimme wäre. Ich würde sagen: »Aber vielleicht sind wir selbst die Verrückten, weil wir die Welt nicht mehr verstehen.«
Der Kummer kommt nachts. Trotz der weißen Pillen, die mich einschläfern sollen, liege ich wach. Aus den Ecken des Zimmers bewegt sich die Dunkelheit auf mich zu. Ich denke an die Wiese. An Liisa und mich auf der grünen Wiese. An den Tropfen auf dem Grashalm, den Himmel, Liisas Hand, die nach meiner greift. Sie lässt mich nicht los und verwandelt sich in die Hand des Mädchens. Ella streckt ihre Hand nach mir aus, und ich habe nicht vor, sie loszulassen, nie.
Meine Schultern hängen mit jedem Tag mehr. Meine Haare rieseln vom Kopf wie Herbstlaub. Je größer meine Trauer, umso dünner werde ich. Die Ärzte sind ratlos. Sie stehen auf dem Flur und murmeln, zweifeln gegenseitig ihre Diagnosen an. Nach einer Woche beschließen sie, mich nach Hause zu schicken.
Ich sitze im kühlen Zimmer und vernehme das endgültige Urteil.
»Wir finden keine Krankheit bei Ihnen, wir wissen nicht, wo das Problem liegt. Am besten, Sie gehen nach Hause, hier wird es auch nicht besser. Machen Sie Spaziergänge, essen Sie gut, geben Sie Sahne zum Essen. Trinken Sie Milch. Fangen Sie wieder an zu arbeiten und versuchen Sie, Halt zu bekommen.«
Ich sehe die Ahnung einer tiefen Krise vor meinem inneren Auge aufblitzen. Mir fällt das Wort ein, das die geschwätzige Nachbarin im Zusammenhang mit einem Dienstmädchen aus Kuhmo benutzt hat, das nach einer Totgeburt splitternackt mit einem kleinen kartoffelgefüllten Mullbündel durchs Dorf rannte. Das Wort klang nach einer seltenen Pflanze und ermahnte zur Stille.
Irgendetwas mit Hys…
Psst.
Still bin ich ebenfalls, bin ohne Stimme, kein Wort werde ich mehr sagen.
24.
MARTTI SASS LANGE neben Elsa. Noch warf ihn die Trauer nicht zu Boden. An Elsas Hand blitzte der Ehering. Erst wollte er ihn dort lassen, aber dann wurde ihm klar, dass es guttäte,
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