Wahr
den Ring bei sich zu haben, wenn er abends schlafen ging. Er zog Elsa den Ring vom Finger. Auf ihrer Haut blieb eine deutliche Linie zurück.
Im Flur sah er Eleonoora. Sie wirkte, als habe sie geweint: Sie wusste Bescheid. Er wagte nicht, auf seine Tochter zuzugehen, sah nur, dass sie ebenfalls wusste, worüber sie nie gesprochen hatten. Empfand sie Enttäuschung, Wut, Hass? Er versuchte, in ihrem Gesicht zu lesen. Was verspürte er selbst? Reue? Nein. Er dachte an die Worte der Frau im Krankenhauscafé, die ihn an einen weisen Clown erinnert hatte: Man soll sein Leben nicht bereuen. Er ging keinen einzigen Schritt auf Eleonoora zu, streckte auch seine Hand nicht aus. Schloss nur die Faust um Elsas Ring.
Eleonoora kam zu ihm, aber umarmte ihn nicht. »Ich habe es nicht rechtzeitig geschafft«, sagte sie wie ein Kind, stammelnd.
»Sie ist einfach gestorben, zusammengebrochen und gestorben«, sagte er.
»Ich gehe jetzt rein und setze mich zu ihr«, sagte sie.
Sie vereinbarten, dass Eleonoora Elsa für die Beerdigung ankleiden würde.
Er fragte, ob er auch kommen solle.
Eleonoora schüttelte den Kopf, er fügte sich.
Seine Tochter zitterte. Alles war jetzt zwischen ihnen spürbar, Enttäuschung, Hass, Vorwürfe, Liebe. Die Erinnerungen konkretisierten sich so deutlich, dass die Jahrzehnte wie eine Wand zwischen ihnen aufragten, obwohl sie einander dicht gegenüberstanden.
»Ich rufe beim Bestattungsunternehmen an«, sagte Eleonoora.
»Gut«, erwiderte er.
In der Tür drehte er sich noch einmal nach seiner Tochter um. Sie sah klein aus, verängstigt. Er erinnerte sich an ihre Trauer und Ängste als Kind, ihre Körperhaltung war noch dieselbe. Ella als Sechsjährige, ein krummer Rücken, der schief gelegte Kopf, niedergeschlagene Augen. Als habe sie von einem Tag auf den anderen das Wesen der Trauer erfasst, begriffen, dass man Trauer allein tragen musste. Dass niemand einem sagte, wie lange sie anhielt und wo ihre Grenzen lagen.
Müsste er um Entschuldigung bitten?
Ja, er wollte sich für den Schmerz entschuldigen, den er ihr zugefügt hatte. Aber bedeutete dies, dass er alles Geschehene bereuen musste?
Ihm fiel ein Streit zwischen seiner Tochter und Elsa ein. Die Gründe hatte er vergessen – Eleonoora war gerade fünfzehn, ungezügelt, launisch. Vielleicht hatte Elsa sich falsch verhalten, hatte ihr eine Ohrfeige verpasst, um Eleonoora zur Besinnung zu bringen. Sie bat sie um Entschuldigung für ihren Ausrutscher.
Eleonoora blieb damals hart: »Man kann sich nur entschuldigen, wenn man zugibt, dass man im Unrecht war. Wenn du dich bei mir entschuldigen willst, musst du sagen, dass ich recht habe. Dass ich leben darf, wie ich will.«
Elsa hatte Eleonoora ruhig angesehen und ihre eigene Überzeugung dagegengestellt: »Nein. Mit einer Entsc huldigung bittet man darum, so angenommen zu werden, wie man ist, egal was man getan hat. Und dem anderen zu verzeihen, ist die tiefste Form von Liebe, zu der ein Mensch fähig ist.«
»Entschuldige«, sagte er nun.
Eleonoora drehte sich um. Seine Bitte schwebte durch den leeren Flur.
»Entschuldige bitte. Alles«, sagte er.
Eleonoora sah zu ihm und durch ihn hindurch, während er durch die Tür ging und verschwand.
Er ging unter Linden entlang, hörte die Möwen, die Autos, den ungeduldigen Lärm der Straße. Die Wohnungstür öffnete sich wie sonst auch, dasselbe Geräusch wie sonst auch. Ein Sommerabend. Die Zeit im Jahr, in der das Licht noch nicht über den Zenit war, sondern in der sich die Minuten ausdehnten.
Noch immer hatte er Elsas Ring in der Hand. Er ertrug den Anblick der Gegenstände kaum, ging ohne sich umzuschauen ins Schlafzimmer. Er wollte Elsas Kommode im Wohnzimmer nicht sehen, nicht den Teller in der Küche, von dem sie gestern gegessen hatte.
Das Schlafzimmer roch leicht muffig. Er vermied den Blick auf das Glas auf dem Nachttisch, aus dem Elsa noch am Morgen getrunken hatte. Er öffnete das Fenster, setzte sich aufs Bett, betrachtete seine Hände. Musste man seinen Ehering abnehmen? Das würde er nicht tun. Er wollte nicht. Jetzt, hier auf dem Bett, gestattete er sich, zum ersten Mal ganz und gar in der Erinnerung an Elsa aufzugehen.
Elsa am Abend ihrer ersten Begegnung. Damals hatte er solche Angst, dass ihm leicht übel war. Damals hatte er es hinauszögern wollen, so nervös war er gewesen. Hatte seine Mütze in den Händen gedreht, war neben Elsa hergegangen, hatte sie auf einen seltenen Vogel hingewiesen, den sein Vater ihm
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