Wahr
früher gezeigt hatte. Er hatte sogar gesagt: »Den hat mein Vater mir gezeigt, kurz vor seinem Tod.«
Er hatte einen halben Meter Abstand gehalten, sich nicht näher gewagt, weil er keinen Fehler machen durfte. Dieses Mädchen zu verlieren, hatte er sich nicht leisten können, denn dies war der Beginn von Liebe, wie ihm mit einem Schlag klar geworden war; er hatte sich seltsam ruhig und panisch zugleich gefühlt, ungeschickter als je zuvor, schlotternd, wie neugeboren.
Da stand das Glas auf dem Tisch. Der geöffnete Fensterflügel bewegte sich sacht im Wind, draußen im Park sang ein Vogel. Er wagte es nicht, sich zu bewegen. Noch war Elsas Gesicht bei ihm. Eine falsche Bewegung, und Elsa würde verschwinden. Das Glas, die Wand, das Fenster, die Medikamente auf dem Tisch, die Schmerzpumpe, der Vogel im Baum.
Ein Gentleman hatte er damals sein wollen und Elsa bis vor ihre Haustür begleitet. Ein heller Abend im späten Frühling, die Stadt um sie herum, schläfrig still und doch präsent, wie in einem Tagtraum, einer eigentümlichen Narkose.
Dieses Mädchen will ich heiraten, hatte er gedacht.
Zu seiner Überraschung hatte ihn Elsa zu sich hereingebeten. Sie führte ihn in ihre kleine Wohnung und zeigte ihm den Gedichtband, über den sie gesprochen hatten. Und auf einmal, auf ganz selbstverständliche Weise, zog Elsa vor dem Fenster ihr Kleid aus, ließ es zu Boden fallen und sah ihn an. Der behaarte Hügel unterhalb ihres Bauches und die dunklen Brustwarzen schimmerten durch die weiße Baumwollwäsche, ihre Brüste wirkten schwerer als die, die er nach verrauchten Abenden unter Kunststoffkleidern ertastet hatte. Er ging ein paar Schritte auf sie zu, Elsa nahm seine Hand, legte sie erst auf ihre linke Brust und dann zwischen ihre Beine. Er ließ seinen Zeigefinger dort liegen, hatte zu große Angst, um ihn zu bewegen oder fortzunehmen. Erst dann küssten sie sich.
»Jetzt hast du mich dort angefasst, nun musst du mich auch heiraten«, hatte Elsa lächelnd gesagt.
»Sofort«, hatte er berauscht geantwortet, dümmlich-ergeben, ehe er begriff, dass Elsa gescherzt hatte.
»Vielleicht warten wir noch ein bisschen und lernen uns erst kennen«, hatte sie gesagt und gelacht.
Er war am frühen Morgen wieder aufgebrochen und ans Meer gegangen, hatte aufs Wasser geblickt und gedacht, das ist das Glück, größer als dieses pralle Angefülltsein kann es gar nicht werden. Es war schwer, in den eigenen Grenzen zu bleiben. Er war sich damals in keiner Weise sicher, wie es weitergehen würde, ob er dieses Mädchen kriegen würde, dazu noch all die anderen Dinge, die er anstrebte; aber irgendetwas kündigte sich an, und gerade diese noch unkonkrete Ahnung befeuerte seine selige Ungeduld und sein bedingungsloses Vertrauen in das Gelingen seiner Vorhaben, was auch immer sie sein mochten.
Es war nicht die einzige Form von Glück. Später kamen andere hinzu.
Er dachte an den Schuppen in Tammilehto, an seine alten Arbeiten. An das Bild, das unfertig, unbeholfen und auf ewig mit Mängeln behaftet in Rautalampis Hinterzimmer lag. An das Bild von Elsa, das er in den letzten Wochen begonnen hatte. Würde es unvollendet bleiben oder würde er weitermalen? All diese Werke. In diesem Augenblick schwiegen sie. Die Wahrheit, die sie bargen, hatte in diesem Moment keine Bedeutung.
Alles lag vor ihm. Eleonoora als Kind, sechsjährig oder jünger. Eeva lachend, mit nassen Haaren – Eeva nach der Sauna in einem ihrer gemeinsamen Sommer in Tammilehto. Und die ganz frühen Erinnerungen, Spielzeug, das Gesicht seiner Mutter, die warme Hand seines Vaters, nach der er griff. Die frische Hefewecke, die ihm der Bäcker auf dem Markt schenkte. Seine Kinderhand streckte sich gerade danach aus, als sein Vater liebevoll mahnte: »Vorsicht, nicht fallen lassen.«
Elsa, ganz und unversehrt.
Er sah wieder zum Glas. Am Rand haftete die blasse Spur ihrer Lippen, es war halbvoll mit Wasser. Wenn er sich jetzt bewegte, würde alles in die Vergangenheit kippen, zum Präteritum werden.
Noch einen Moment sitzt er da, hält alles beisammen: Elsas Gesicht, Eleonoora, Eeva, diesen Tag. Noch steht er nicht auf.
1968
Kuhmo, August. Alles ist reif, alt und schwer, wie früher. Ich habe keine Kraft, meinen Eltern beim Melken zu helfen. Aber meine Mutter bindet die gute Assi an einen Pflock und bittet mich, sie zu striegeln. Die Tür zum Stall steht offen, meine Mutter schimpft mit einem Kalb, klatscht einen Eimer Wasser auf den Boden und schrubbt den Gang. Ein
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